22. Dezember 2018

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[Kapitel 22 # Samstag]

"Stell nichts Dummes an", ermahnt mich meine Mom, während sie ihren Mantel anzieht. "Wann habe ich jemals etwas Dummes angestellt?", empöre ich mich. Nach Unterstützung suchend sehe ich zu meinem Dad hinüber, der mit den Schnürsenkeln seiner Winterstiefel kämpft. Lachend zieht er eine Augenbraue in die Höhe, bevor er sich erhebt. "Darüber können wir reden, wenn wir mehr Zeit haben", behauptet er mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr. Dreist. Mit einem anderen Adjektiv kann ich meine Eltern im Moment nicht beschreiben.

"Das Essen für die nächsten Tage habe ich letztens in den Tiefkühler gelegt. Hol es rechtzeitig raus, damit es auftauen kann", beginnt meine Mom mir die letzten Instruktionen zu geben, "lüfte wenigsten einmal am Tag das Haus durch und schließ abends die Haustür von innen ab. Sollte irgendwas sein, kannst du jederzeit deine Oma anrufen – oder uns. Okay?" Vorsichtig verdrehe ich meine Augen, bevor ich nicke. Jetzt fehlt nur noch, dass sie mir sagt, dass ich die Feuerwehr rufen soll, wenn es brennt.

"Montagabend sehen wir uns doch schon wieder. Bis dahin werde ich nicht umkommen", versichere ich ihr, während ich einen Schritt auf sie zumache. "Okay, okay, ich bin jetzt ruhig", lacht meine Mom leise. "Hab dich lieb", drückt sie mir einen Kuss auf meine Wange. Von meinem Dad werde ich in eine kurze Umarmung gezogen. "Stell nichts Dummes an", zwinkert er mir belustigt zu, ehe uns ein lautes Hupen aufschrecken lässt.

"Das Taxi ist da", bemerke ich das Offensichtliche, damit meine Eltern endlich das Haus verlassen. Eilig greift meine Mom nach ihrem kleinen gelben Koffer, während mein Dad seine Reisetasche aus Leder schultert. Das beste Beispiel dafür, dass Männer mit viel weniger auskommen als Frauen. Erleichtert atme ich auf, als die Haustür ins Schloss fällt. Meine Mutter nimmt die Abschiede immer viel zu ernst, wenn sie mich alleine lässt.

Dabei verreisen meine Eltern gerade einmal für ein Wochenende. Jedes Jahr um diese Zeit besuchen sie ein Ehepaar, das in Vancouver lebt, und sitzen somit quasi länger im Flugzeug als auf dem Sofa ihrer Freunde. Die vier sind seit ihrer Studienzeit miteinander befreundet. Jedoch habe ich keinen blassen Schimmer, um wen es sich handelt. Noch kein einziges Mal habe ich dieses ominöse Ehepaar zu Gesicht bekommen. Aber eigentlich ist mir das auch relativ egal.

Mit einem Glas Wasser in meiner Hand betrete ich mein Zimmer. Jedes Mal aufs Neue erschlägt mich die Unordnung, die hier herrscht. Es ist schon lange überfällig, dass ich mal wieder aufräume. Doch im Augenblick fehlt mir die Lust. Viel lieber will ich mich dem neuen Roman meiner Lieblingsautorin widmen. Die letzten Wochen war ich viel zu sehr mit unserem Theaterstück beschäftigt, sodass ich gar keine Zeit zum Lesen hatte. Doch das Vibrieren meines Handys verleitet mich dazu die eingegangene Nachricht anstatt das Buch zu lesen.

Baby, tell me when you're ready, I'm waiting

Meine Augen zusammenkneifend denke ich voller Scham an den gestrigen Abend zurück. "Ich brauche Zeit zum Nachdenken." Das habe ich allen Ernstes geantwortet. Nachdem mir Shawn sein ganzes Herz ausgeschüttet hatte und davon überzeugt gewesen war, dass wir perfekt zusammenpassen. "Ich kann das nicht jetzt entscheiden." Ein weiterer Satz, der meinem Mund entflohen war. Dabei wusste ich tief im Inneren, dass ich mich schon längst entschieden hatte.

"Willst du heute Abend vorbeikommen?", drücke ich schließlich auf Senden, nachdem ich die Nachricht dreimal neu formuliert habe. Es ist Zeit, dass ich Shawn eine gescheite Antwort gebe und nicht nur herumstammle. In Gedanken lege ich mir bereits die richtigen Worte zurecht – auch wenn ich weiß, dass ich am Ende etwas ganz Anderes sagen werde. "Gerne. Denke, ich schaffe es so gegen sieben", lese ich mit pochendem Herzen. Noch etwa zehn Stunden. Zehn Stunden, in denen ich locker verrückt werden würde.

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt