1. Dezember 2018

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[Kapitel 1 # Samstag]

Meine linke Hand vergrabe ich in der Tasche meines Mantels, während ich mit der anderen Hand die Leine aus schwarzem Leder festhalte. Die Angst, dass Viotti ein Eichhörnchen entdeckt, sich losreißt und auf die andere Straßenseite rennt, war bis vor einigen Monaten bei jedem Spaziergang mit ihm präsent. Doch mittlerweile ist er ein alter Herr und viel zu träge, um anderen Tieren hinterherzujagen.

Die Lebenserwartung eines Nova Scotia Retrievers beläuft sich auf zehn bis vierzehn Jahre. Somit hat er höchstens noch drei Jahre zu leben. Und der Gedanke daran, dass er mich bereits während seines zwölften Lebensjahrs verlassen könnte, zerrt seit den Sommerferien an mir. Wie bei vielen anderen Einzelkindern, war er schon immer der Bruder, den ich nie hatte.

Das laute Kläffen des Rüden lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Erwartungsvoll blickt er mich an und fordert mich auf, die Leine von seinem Geschirr zu lösen. Dann schmeißt er sich regelrecht in das flache Wasser am Rand des Lake Ontario. Ein Mensch würde zu dieser Jahreszeit auf der Stelle erfrieren. Doch Viottis Rasse wurde gezüchtet, um aus eisigen Gewässern zu apportieren.

Bevor ich ihn zurückpfeife, lasse ich ihn einige Minuten durch den See tollen. Schon immer habe ich ihn dafür bewundert, wie gehörig er ist. Denn ich muss nicht lange darauf warten, dass er zu mir zurückkommt und meine Beine umrundet. Viotti ist dabei nicht mehr so schnell, wie früher. Aber er ist heute schneller, als an anderen Tagen. Zufrieden nehme ich wahr, wie gut es ihm heute geht.

Da sich der Himmel langsam zuzieht, beschleunige ich meinen Schritt und biege mit dem Rüden in die Straße, auf der ich wohne, ein. Gerade überlege ich, ob es regnen oder schneien wird, als mir eine bekannte Gestalt ins Auge fällt. "Peewee", ruft der Braunhaarige erfreut, während er auf mich zu gejoggt kommt. "Hey Shawn", lache ich ausgelassen, bevor ich ihn kurz umarme.

Schon oft habe ich gegen seinen Spitznamen für mich protestiert. Doch ihm macht das herzlich wenig aus. Dafür ist er nach all den Jahren noch viel zu begeistert von seinem genialen Einfall. Denn das 'P' steht nicht nur für 'Paige' und das 'W' für 'Wilson', sondern bedeutet in der richtigen Schreibweise auch 'Kleine'. Natürlich bin ich im Vergleich zu Shawn wirklich klein. Jedoch falle ich mit meinen eins achtundsechzig eher in die Kategorie der durchschnittlichen Körpergröße.

"Du bringst dich in Form?", schmunzle ich, als mein Blick an seinem Joggingoutfit entlang gleitet. "Ich halte mich in Form", schnipst mir Shawn erbost gegen meinen Oberarm. Allerdings spüre ich durch den dicken Stoff meines Mantels rein gar nichts. "Natürlich", hebe ich abwehrend meine freie Hand, bevor ich erneut lache.

Der braunhaarige Junge kniet sich auf den Gehweg und beginnt meinen Hund an der Brust, die als einzige mit weißem Fell bedeckt ist, zu kraulen. "Wie läuft es mit dem komponieren?", fragt Shawn den Rüden, während er seine kräftigen Hände durch das ansonsten rote Fell wuschelt. Grinsend betrachte ich die zwei, die scheinbar nicht genug voneinander bekommen können.

Ab und an verspürt der Sänger den Drang, diese mehr oder weniger sinnvolle Frage zu stellen. Denn Viotti ist nach einem italienischen Violinisten und Komponisten, der bereits 1824 starb, benannt. Damals wollte ich mit der Namensgebung meinem Dad, der ein Anhänger der klassischen Musik ist, einen Gefallen tun. Doch wahrscheinlich hätte man einen besseren Namen für einen Toller finden können.

"Okay, ich muss los. Ansonsten schaffe ich es nicht mehr trocken nach Hause", richtet sich Shawn auf, während er in Richtung Himmel blickt. "Gesundheit", grinse ich wissentlich, nachdem er lautstark geniest hat. Bevor der Junge ein zweites Mal niesen kann, reiche ich ihm ein Desinfektionstuch aus meiner Umhängetasche. Die haben die Reizung, die dank Shawns Hundehaarallergie auftritt, schon immer gemildert.

"Wir sehen uns spätestens am Montag", wirft er mir ein typisch unwiderstehliches Lächeln zu. Dann setzt sich der Braunhaarige in Bewegung und entfernt sich immer weiter von meinem Haus. Einen Moment blicke ich Shawn hinterher und wunder mich, wie er bei diesen Temperaturen eine kurze Hose tragen kann. Doch in den ganzen Jahren, in denen wir zusammen aufgewachsen sind, habe ich ihn noch nie wirklich frieren sehen.

"Was hältst du von einem dicken fetten Mittagessen?", frage ich Viotti, während ich den silbernen Briefkasten leere. Als wüsste er, dass er heute ein Stück Leber verspeisen darf, fängt der Rüde heiter an zu bellen. Lachend nehme ihm das Geschirr ab und hänge es an die Garderobe. Wie üblich schlägt Viotti sofort den Weg in Richtung Wohnzimmer ein.

Verwundert drehe ich den Umschlag, den ich vorhin aus unserem Briefkasten gefischt habe, in meinen Fingern umher. Die Tatsache, dass mein Name draufsteht, überrascht mich. Denn ich bekomme so gut wie nie Post. Jedoch prangen lediglich die fünf Buchstaben meines Vornamens in schwarzer Schrift auf dem Umschlag. Als ich ihn öffne, fällt mir ein kleiner Schnipsel Papier in die Handinnenfläche.

Let's make mistakes and don't look back, it's now or never.

Ich lese diesen Satz viermal. Beim ersten Mal frage ich mich, wer mir die Nachricht geschickt hat. Beim zweiten Mal summe ich die Melodie des Liedes, aus dem der Satz stammt, mit. Beim dritten Mal erscheinen die braunen Locken von Shawn vor meinen inneren Augen. Und beim vierten Mal frage ich mich erneut, von wem der Brief stammt.

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Stammt der Brief vielleicht vom Weihnachtsmann?🤔

Nur ein Stück Papier •Shawn Mendes•Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt