Kapitel 4

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Mila

In einer Woche habe ich es geschafft, nicht einen einzigen Mitschüler zu finden, der mit mir spricht. Nicht einmal mein Bruder spricht in der Schule mit mir. Weil ich ihm peinlich bin, denn alle nennen mich nur Seattle. Was daran peinlich ist, weiß ich nicht. Seattle ist eine sehr schöne Stadt, also kann ich damit leben. Irgendwie kann ich auch damit leben, dass mein Bruder die Mittagspausen mit seinen neuen Freunden immer in der Nähe von Julian und seinen Groupies verbringt und ihn anhimmelt. Bis jetzt hatte ich keine Ahnung, dass Josh auf Musik steht. Früher hatte er es eher mit Alkohol, Ladendiebstahl und allem, was man sonst so tun kann, um die Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich zu ziehen.

Ich schlage Sturmhöhe auf - seit dem ersten Schultag habe ich es schon zweimal gelesen und bin noch immer der Meinung, dass Heathcliff viel mehr von Hass als von Liebe gesteuert wird - und möchte mich gerade in das Buch vertiefen, als sich jemand neben mich unter meinen Stammbaum setzt.

»Du schon wieder«, stoße ich genervt hervor.

»Wie oft haben wir uns in letzter Zeit unterhalten?«, will Julian wissen. »Lass mich nachdenken. Gar nicht.«

Ich ignoriere ihn und mein klopfendes Herz und konzentriere mich einfach wieder auf das Buch. Die meiste Zeit ignoriert er mich auch, bis auf die wenigen Gelegenheiten, bei denen er mich mit irgendwelchen abfälligen Kommentaren belästigt. Wie gestern, als er nach meinem Vortrag über die Wichtigkeit von erneuerbaren Energien, und warum auch die USA wie andere Länder mehr für den Umweltschutz tun sollten, wissen wollte, ob ich deswegen nicht mehr mit dem Auto zur Schule kommen würde.

»Hast du deine Meinung über Sturmhöhe schon geändert, Seattle?«

»Nein, Riverside«, knurre ich ihn an.

»Rush«, verbessert er mich. Alle benutzen nur seinen Nachnamen.

»Habt ihr ein Problem mit Vornamen?« Ich schlage das Buch zu und sehe ihn fragend an. Er hat mich in den letzten Tagen wie alle anderen ignoriert, weswegen es mich wundert, vielmehr neugierig macht, warum er ausgerechnet jetzt mit mir spricht, aber das lasse ich mir natürlich nicht anmerken. Stattdessen gebe ich mir Mühe, weiterhin genervt zu wirken.

»Nein.«

»Warum nennst du mich dann Seattle?«

Er lehnt sich dichter an mich heran, schnappt sich die eine Ponysträhne, die ich immer aus meinem Zopf herausfallen lasse, damit ich sie im Unterricht immer wieder um meinen Finger wickeln kann, und zieht daran. »Weil ich dir diesen Spitznamen gegeben habe.«

Es verlangt mir alles ab, um ihn nicht entsetzt anzustarren. Was er gesagt hat, hat sich so intim angefühlt, dass mein Puls jetzt viel zu schnell rast. Hat es etwas zu bedeuten oder verspottet er mich wieder nur? Natürlich verspottet er mich wieder nur. Und warum interessiert es mich überhaupt, was seine Worte zu bedeuten haben? Ob sie etwas zu bedeuten haben. Ich sollte es besser wissen, Julian Rush flirtet ständig mit irgendwelchen Mädchen. Es gibt kaum eine Mittagspause, in der er nicht mit einem Mädchen rummacht. Er scheint dabei nicht sehr wählerisch zu sein.

Er springt auf und bleibt stehen, schaut von oben auf mich herab. »Ich glaub auch nicht daran, dass er aus Liebe handelt.«

»Was?«, fahre ich ihn verwirrt an. »Warum hast du es dann gesagt?«

»Ich hab das nur gesagt, weil es das ist, was Collins hören wollte. Der Mann ist Sportlehrer. Mit Literatur hat der nichts am Hut.«

»Aber er unterrichtet Literatur.«

»Nur Vertretung. Wenn du willst, dass er dir glaubt, musst du ihm die Sachen nur so verpacken, wie er sie gerne hören möchte.«

»Aha«, mache ich gedehnt. Aber ich will mich mit seiner Behauptung nicht zufriedengeben. »Du willst mir also erklären, dass all dein Geschwafel von Liebe nur eine Lüge war, um Mr. Collins um den Finger zu wickeln? Und was ist dann mit den Geistern, die alle immer wieder sehen?«

Julian schiebt seine Hände in die Taschen seiner Jeans und grinst nachdenklich auf mich runter, dann sieht er nach oben in die Baumkrone. Er blinzelt in die Sonne, ein paar seiner Strähnen hängen ihm in die Augen, aber das scheint er gar nicht zu bemerken. Ich weiß es sogar sicher, denn sie hängen ihm immer ins Gesicht und er streicht sie nie heraus. Außer er flirtet mit einem Mädchen. Dann macht er es auf eine so lässige Weise, fährt sich mit den Fingern durch die Haare, dass die Mädchen immer einen ganz verträumten Blick bekommen. Er nutzt diese Geste ganz bewusst. So wie jetzt bei mir. Aber ich kenne sein Geheimnis, weil ich Menschen gerne studiere. Weswegen es mir leichtfällt, so zu tun, als würde mich diese Handbewegung völlig unberührt lassen.

»Zu dieser Zeit haben die Menschen doch überall Geister gesehen, wenn jemand gestorben ist, Seattle. Nichts an Sturmhöhe ist Fantasy. Die Geister gibt es nicht. Brontë unterstreicht damit nur das Unbehagen, das beide in den Menschen ihrer Umgebung ausgelöst haben.«

»Komisch, Lockwood kannte Cathy gar nicht, wie konnte er sie dann trotzdem sehen?«

»Wegen all der Geschichten, die er gehört hat.«

Ich ärgere mich darüber, dass er auf alles eine Antwort zu kennen scheint und überlege verzweifelt, wie ich ihn verunsichern könnte. Nur eine winzige Kleinigkeit, auf die er keine Antwort weiß, aber mir fällt nichts mehr ein. Und er weiß es, denn er lächelt zufrieden, als er weggeht und ich ihm ungläubig hinterher starre. Das alles war also wirklich nur eine Show. Eigentlich hätte es mir gleich klar sein müssen. Wer glaubt schon an die große Liebe und wechselt so oft seine Anhängsel wie er?

»Also, bis dann Seattle«, sagt er und schaut zwinkernd über die Schulter zurück.

»Mila«, schreie ich ihm wütend hinterher. Er lacht nur.




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