Kapitel 3

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Lucinda

Es war wirklich erstaunlich, wie viel Aufmerksamkeit man einer Ameise schenken konnte. Seit geschlagenen fünf Minuten beobachtete ich das schwarze Insekt. Stur kämpfte die Kleine sich durch die feinen Sandkörner. Immer wieder rutschte sie ab und wurde unter einigen Körnern vergraben, doch jedes Mal schaffte sie es, sich zu befreien. Eigentlich erstaunlich, schließlich waren die Körnchen etwa so groß wie ihr Kopf. Aber mit eisernem Willen bahnte die Ameise sich ihren Weg durch den Sand, zielstrebig weg vom Wasser. Obwohl sich dadurch die Frage aufdrängen, ob Ameisen als solche eigentlich einen freien Willen hatten.

»Lucinda?«

Ich schreckte aus meinen Gedanken. Meine Freunde blickten mich an. Verdammt. Wieso hatte ich nicht zugehört?

Nun ja, eigentlich war das eine einfache Frage. Ich hatte mich viel lieber auf die kleine Ameise konzentriert, als nachzudenken. Denn dazu würde es zwangsläufig kommen. Schon seit ich heute von dem neuen Schüler erfahren und ihn selbst auf dem Gang gesehen hatte - zweimal - verdrängte ich hartnäckig sämtliche Bilder aus meinem Kopf. Auf dem Weg nach Hause hatte ich angefangen, das Alphabet rückwärts zu buchstabieren und zu jedem Buchstaben einen Vornamen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis zu finden. Ehrlich gesagt war das gar nicht so einfach, zumal man sich ja die Buchstaben merken musste, wozu man keinen Namen fand.

Nebenbei war das eine sehr gute Methode, sich und sein Gehirn zu beschäftigen.

Allerdings waren mir nach und nach die Ideen ausgegangen, und als ich mich vor einer halben Stunde mit meinen Freunden hier am Strand auf der Düne getroffen hatte, war ich kurz davor gewesen, in Panik auszubrechen. Aber da Logan ja Luca mitgebracht hatte, hatte ich mich daraufhin damit beschäftigt, was Hunde denken könnten. Anschließend hatte ich der kleinen Ameise meine Aufmerksamkeit geschenkt.

Da ich aber so sehr mit Nachdenken beschäftigt gewesen war, hatte ich absolut nichts davon mitbekommen, worüber gerade geredet wurde. »Ja, was? Sorry, ich war gerade mit den Gedanken woanders.« Ich spürte, wie sich meine Wangen zart rot färbten.

Ash, der gegenüber von mir saß, musterte mich aufmerksam mit seinem silbernen Blick. Logan kniete links von mir, neben ihm Gael, der gerade mit Essen beschäftigt war. Danach kam Ash und zwischen ihm und mir saß Jean.

Und genau der sah mich besonders durchdringend an. »Ich hab dich gerade gefragt, ob du auch ein Stückchen Käse magst«, wiederholte er kauend und hielt mir die Schüssel mit Käsewürfeln auffordernd vor die Nase.

Ich musste grinsen. Jean Louis de Standare war eigentlich nie ohne Käse anzutreffen. Egal ob Gauda, Emmentaler oder Camembert, für ihn war Käse quasi ein Grundnahrungsmittel. Allerdings fragte ich mich immer noch, wohin er die ganzen Kalorien von dem fettigen Käse packte. Denn an seinem breiten und muskulösen Oberkörper war so gut wie kein Gramm Fett. Dementsprechend perfekt schmiegte sich das lavendelfarbenes Shirt an seine Brust, welches er gekonnt mit einer engen, schwarzen Jeans und lilanen Sneakern kombiniert hatte. Die Schuhe passten außerdem hervorragend zu seinen Haaren: Jean hatte sich den Ansatz lila gefärbt, die Farbe lief nach und nach bis in die dunkelbraunen Spitzen aus, welche er sich nach oben gekämmt hatte. Eine der Strähnen war ihm nach vorne auf die Stirn über die leicht gebräunt Haut in sein herzförmiges Gesicht gefallen. Die gerade Nase und der zart geschwungene Kiefer verliehen seinem Gesicht etwas Unvergessliches. Man erinnerte sich einfach an Jean, wenn nicht wegen seinem Auftreten, dann zumindest wegen seinen Augen. Leuchtend pink glitzerte sie in der tiefstehenden Sonne. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war ich aus dem Starren gar nicht mehr rausgekommen. Erst als Logan mir versichtert hatte, dass seine Augen eigentlich von einem hellen Kristallblau waren, hatte ich meine Glauben wiedergefunden. Trotzdem konnte ich nicht verstehen, warum er sich das mit den Kontaktlinsen jeden Tag auf's Neue antat. Ich meine, ich hatte es auch mal für ein halbes Jahr mit Monatslinsen versucht, aber irgendwann war ich so wütend, weil ich die blöden Dinger nicht ins Auge bekommen hatte, dass ich die Linsen in die Ecke gedonnert und wieder meine Brille genommen hatte. Dann ging es mir besser.

Seelenschreiberin (Doppelband)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt