Álvaro
Nur schwer brachte ich es über mich, den Blick von ihr abzuwenden. Das Mädchen war so unglaublich schön. Warum fiel mir das erst jetzt auf?
Ihre grasgrüne Augen ähnelten von der Farbe her zwar denen von Lorenzo, trotzdem konnte ich sonst keine Ähnlichkeiten zwischen den Beiden finden. Bei dem Mädchen beispielsweise funkelten dunkle Splitter wie winzige Scherben einer zerbrochenen Flasche aus grünem Glas in ihrer Iris. Lucinda als Person war so ruhig, sehr aufmerksam, ihr Blick so unschuldig. Vermutlich bekam sie mehr mit, als man dachte.
Noch nie hatte ich jemanden mit silbernen Haare gesehen, zumindest nicht in diesem Alter. Bis jetzt war ich schlichtweg davon ausgegangen, dass das auch niemandem stehen würde, nicht einmal ansatzweise. Doch die Kleine widerlegte diese Ansicht komplett. Niemals hätte ich gedacht, dass graue Haare so gut aussehen konnten.
Ich stand auf, Jean und Logan musterte mich verwirrt. »Ja, wir können gern anfangen«, antwortete ich leise.
Zwar hatte ich keinen Plan, was genau Jean jetzt mit mir vorhatte, aber ich ging nicht davon aus, dass es schlimm war. Sonst hätten die Anderen sicher etwas gesagt. Der Mann hatte mich vorhin angerufen und gefragt, ob wir uns zusammen mit den anderen am Strand treffen. Wir würden etwas essen und er hätte wieder mal Lust, uns zu fotografieren. Insbesondere mich, weil er mich hübsch fand.
Ich meine gut, ich war schon nicht hässlich, schließlich prangten die Runen für Erbe und Macht auf meiner Brust - und das nicht unbegründet.
Ich hatte zugesagt, da ich sonst vermutlich den ganzen Abend vor mich hin gestarrt hätte. Und da gab es wirklich bessere Aktivitäten.
Jean schnappte sich seine Kamera und ging in Richtung Meer. Wortlos folgte ich ihm. Meine Zehen gruben sich in den feinen, warmen Sand. Unwillkürlich fiel mir auf, dass ich in den letzten anderhalb Wochen das erste Mal solchen Sand gesehen hatte. Ebenso wie das Meer. Zumindest war ich noch nie am Meer gewesen, Bilder und Zeichnungen waren mir natürlich geläufig. Bis dato kannte ich nur Wald, Felsen und Berge hautnah. Und Seen. Aber halt nicht das Meer. Die salzige Luft roch gut und beruhigte mich ungemein. Feine Sandkörnchen wurden von der leichten Briese aufgewirbelt und tanzen in Kringeln um meine Beine.
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch meinen linken Fuß. Er war nicht so schlimm, trotzdem zuckte ich jäh zusammen und sah verwundert nach unten. Als allerdings nichts zu sehen war, ging ich in die Hocke und strich ich mit den Fingern durch den warmen Sand. Unendlich fein glitten die Körner über meine Haut, doch dann erwischte ich das Spitze. Ich packte zu und zog es aus dem Sand.
Im nächsten Moment fragte ich mich, wie etwas so Schönes wehtun konnte. Tausende Gelb- und Brauntöne mischten sich auf der Muschel, fleckten sich wild durcheinander. Trotzdem wirkte es, als wäre jeder Punkt bewusst gesetzt. Mit einer Bedeutung. Mit einem tieferen Sinn. Ehrfürchtig strich ich mit den Finger über die Rillen auf der Oberseite der Muschel. Sie war etwa so groß wie meine Faust, dennoch wirkte sie zerbrechlich und zart wie eine Eisblume. Ich hatte Angst, sie mit einer kleinen, falschen Bewegung einfach kaputt zu machen.
Eine Kante fehlte ja schon. Schnurgerade lief die Bruchstelle an der rechten Ecke der Muschel entlang und formte zwei spitze Ecken.
Auf welche ich wahrscheinlich vorhin auch getreten war.
Ich drehte die Muschel um. Erneut stockte mir der Atem. Das Licht der Nachmittagssonne fiel warm auf die spiegelglatte Oberfläche und ließ sie perlmuttfarben strahlen. Violett, Blau und Rot tanzten im Licht, allerdings so schwach, dass sie nur zu erahnen waren.
Einmal hatte ich in meinem Leben eine Muschel gesehen. Wir waren auf der Jagd gewesen, mein Vater, Alejandro und ich. Unterwegs hatten wir einen Händler mit seinem Wagen getroffen. Er hatte uns mit seinem Gepfeife das Wild verscheucht. Und ich hatte meinen Bogen schon gespannt gehabt, um den großen Hirsch zu schießen. Doch dann war der Mann lautstark den Weg entlang getuckert und das Tier war aufgeschreckt. Alejandro hatte sich nur schwer das Lachen verkneifen können.
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Seelenschreiberin (Doppelband)
FantasyMir wurde schlecht, als sich unsere Blicke das erste Mal trafen. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Schlagartig weigerte sich meine Lunge, zu atmen, und all mein Blut verabschiedete sich in meine Beine. Dazu kam, das...