Álvaro
»... Bei der Beta-Plus-Strahlung wird daher kein, wie eben gerade bei der Beta-Minus-Strahlung, Elektron abgespalten, sondern ein Positron, wie es das Plus vielleicht schon verraten könnte. Da dieses aber nicht einfach so im Atom vorkommen, ist hierzu eine Reaktion im Atomkern nötig. Ein Proton wird in das Positron und ein Elektron sowie einem Neutrino zerlegt. Das Positron wird dann als Beta-Plus-Strahlung abgegeben. Das Ganze passiert vorwiegend bei Atomen mit Protonenüberschuss und die Strahlung hat ein besseres Durchdringungsvermögen, jedoch ist das Ionisierungsvermögen schlechter als bei Alpha-Strahlung ...«
Ich blendete Mr Schroeder aus. Nichts gegen seine Erklärkünste, aber ich hatte im Moment gerade weitaus größere Sorgen als Teilchenstrahlung. Denn die Dinger waren eh viel zu klein, als sie mit bloßem Augen zu erkennen. Nur aufgrund der Wirkung konnte man die Existenz feststellen.
Eigentlich war es wie mit der Liebe. Ich glaubte kaum, dass jemand genau sagen konnte, ob der andere gerade Liebe empfand. Natürlich konnte man dieses Gefühl erkennen, aber nur in der Wirkung, nicht als in der selben Reinheit, wie man sie fühlte.
Was dachte ich eigentlich gerade? Verschlafen fuhr ich mir über's Gesicht und strich eine meiner dunklen Locken hinter's Ohr. Gestern war es doch später als vermutet gewesen. Wenn es gut kam, bin ich vielleicht gegen zwei oder drei dann wirklich eingeschlafen.
Mühevoll unterdrückte ich ein Gähnen. Ich machte mir einfach zu viele Sorgen um meine Freundin. Gestern war ich gerade aus der Besprechung mit dem Schulleiter gekommen und nur Sekunden nachdem ich auf mein Handy geschaut hatte, wusste ich, dass ich nicht mehr in den kleinen, schnuckeligen Park gehen musste, da Lucinda dort nicht sein würde. Schurstracks hatte ich mich auf den Weg gemacht. Noch immer sah ich die Worte in meinen Kopf, die Logan in die Gruppe unserer Clique geschickt hatte.
Lucinda geht es nicht so gut, ihr ist schlecht. Ich bringe sie nach Hause.
Als Erstes hatte ich versucht, sie anzurufen, doch ihr Handy war vermutlich komplett aus. Das war schon der Punkt, wo ich krank vor Sorge gewesen war. Und kaum kam ich bei Lucinda zu Hause an, öffnete mir auch noch Logan die Tür und verkündet, dass sie kotzend über der Kloschüssel hing und mich nicht sehen wollte. Ebenfalls weigerte er sich, mich reinzulassen.
Dennoch klebte selbst jetzt noch das Gefühl wie Honig an mir, dass der Junge ausgewühlter war als sonst und irgendetwas nicht stimmte. Diese Vermutung wurde leider auch noch verstärkt, als Lucinda mir heute morgen kaum in die Augen sehen konnte. Sie sprach kaum mit mir und wich meinen Berührungen kaum merklich aus.
Außerdem war das Weiße von ihre Augen heute morgen knallrot gewesen als hätte sie die Nacht damit verbracht, Zwiebeln zu schneiden und sich diese anschließend in die Augen zu reiben.
Oder sie hatte geweint. Was vermutlich die wahrscheinlichere Variante war.
Allerdings hatte Lucinda in den kleinen Pausen vorhin nicht sagen wollen, was los war.
Frustriert griff ich nach meinen Bleistift und setzte die Graphitspitze auf dem Rand meines Hefters an. Dann versuchte ich, mich von den panisch grübelnden Gedanken in meinem Kopf zu lösen. Die Linien begannen fast selbst zu fließen. Rechts, links, eine zarte Rundung. Ein Kreis, ein Viereck. Ich konnte noch nicht einmal genau sagen, was ich da zeichnete. Wahrscheinlich war es auch keine Realtistik, sondern eher etwas Abstraktes. Ein Gefühl. Eine Emotion. Vielleicht meine innerliche Angst, vielleicht die Antwort auf meine Fragen, die ich selbst nicht nicht wusste, mein Unterbewusstsein aber trotzdem erahnen konnte.
Ich wusste es nicht. Aber es war egal. Denn das Zeichnen beruhigte mich. Für den Moment. Wieder musste ich an die Nacht denken, als ich mit Kohle- und Kreidestücken den Hof verziert hatte. Es war eine unglaubliche Nacht gewesen. Nie hatte ich mich so frei und lebendig gefühlt. Die Linien zu ziehen hatte mich befreit, von all den Sorgen und Ängsten, von allem den Zwängen und Erwartungen meines Vaters.
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Seelenschreiberin (Doppelband)
FantasyMir wurde schlecht, als sich unsere Blicke das erste Mal trafen. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Schlagartig weigerte sich meine Lunge, zu atmen, und all mein Blut verabschiedete sich in meine Beine. Dazu kam, das...