Lucinda
Ich konnte spüren, wie mir ausnahmslos alle Gesichtszüge entglitten. Völlig entsetzt starrte ich den Mann an, welcher neben mir Platz nahm, gänzlich unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Es war, als wäre jede noch so feine Faser in meiner Körper zu klirrend kaltem Eis erstarrt. Einzig allein mein Herz flatterte panisch wie die feinen Flügel eines Kolibris und ließ meinen ganzen Brustkorb zucken.
Die Sache mit dem Atmen allerdings bekam ich nicht mehr auf die Reihe. Das komische Geräusche, welches ich von mir gab, konnte man noch nicht einmal als Keuchen bezeichnen. Höchstens als jämmerliches Fiepen.
Meine Freunde sahen mich an. Ich konnte ihre brennenden Blicke fühlen, und wie sie sich in meine dünne Haut bohrten. Wie kleine Nadeln stachen sie zu und mit jeder Sekunde wurde es unerträglicher. Das Verlangen, sie anzuschauen und so das brennende geführt zu lindern, wuchs auf unmenschliche Größe in mir an, doch ich hatte nicht die Kraft dazu. Vermutlich sollte ich dankbar sein, überhaupt Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen.
Alejandros schmalen Augen lagen ruhig auf meinen grünen. Man sagte, dass sie die Fenster zur Seele war. Und eben, als dieses Sprichwort - ich wusste sogar, wo es an meiner Decke stand, links unter einem der vielen von Albus Dumbledore - meine Gedanken wie ein Messer durchschnitt, schien es mir, als würden seine Augen tiefer und dunkler sein, als die von Álvaro.
Erst da fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich über Alejandro wusste. Natürlich war es doch viel, wenn man die Tatsache einbezog, dass ich kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte und ihn jetzt zum zweiten Mal sah. Aber auch er war eine meiner Figuren. Und ich kannte ihn, ebenso wie Lorenzo, nicht halb so gut wie Álvaro.
Das war einer der Nachteile, da ich mein ganzes Buch in der Ich-Perspektive aus Álvaros Sicht geschrieben hatte. Somit kannte ich nur seine Gedankenwelt. Zwar war mir durch sein Empfinden gegenüber seiner Mitmenschen bekannt. Beziehungsweise seiner Mitvampire, wenn man es so nennen mochte.
Ich hatte nur indirekt auf die anderen Charaktere Einfluss gehabt. Selbstverständlich war ich das Monster gewesen, welches die Fänden im Hintergrund gezogen und somit jede einzelne Situation geschrieben hatte. Und so hatte ich auch sehr viel der anderen Figuren bestimmt. Im Kopf hatte ich natürlich sämtliche Eigenschaften und Angewohnheiten von Alejandro, Lorenzo und Co. gehabt.
Doch letztendlich war es Álvaros Wahrnehmung gewesen, welche die anderen Figuren gezeichnet hatte. Somit konnten Dinge, die der Vampir nie bemerkt hatte, auch nicht von mir bestimmt werden.
Mein Schreibstil war es wahrscheinlich auch gewesen, welcher Álvaro seine Redensart beigebracht hatte. Alejandro und auch Lorenzo sprachen manchmal etwas geschwollener, eher wie im Mittelalter. Zwar hatte ich diese Art zu reden auch in meinem Buch zum Ausdruck bringen wollen, doch gerade am Anfang, als ich begonnen hatte, Álvaros Geschichte aufzuschreiben, fehlte mir noch sehr diese Art von Wortschatz. Gegen Ende, das gab ich gern zu, wurde es besser. Ich nutze Ausdrücke wie vorlieb nehmen, Tölpel oder Stümper. Ich bezeichnete die Wäscherinen als Waschweiber und verbannte moderne Worte wie Nutte oder Arzt und ersetzte sie mit Hure und Heiler. Meine Schreibart wurde abgebrüht er und ich nannte die Dinge beim Namen.
Leider hatte ich damit Álvaro in seiner Wortwahl nur wenig beeinflusst. Von den drei Vampiren, die nun letztendlich ihr Unwesen in dieser Stadt trieben, hatte er die modernste Sprechweise und konnte sich so am besten anpassen, was nicht gerade nachteilig war.
»Kläre mich auf, Mädchen«, holte mich Alejandro in aus meinen Gedanken heraus.
Doch ich konnte nur dumm glotzen. Seine Stimme war weicher als Álvaros. Klebriger. Viel lockender. Und ich selbst konnte nur ahnen, wie viele Angestellte oder andere Menschenmädchen er damit in sein Gemach bekommen hatte. Giftig grüner Ekel zwängte sich in meine Gefühlswelt.
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Seelenschreiberin (Doppelband)
FantasyMir wurde schlecht, als sich unsere Blicke das erste Mal trafen. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Schlagartig weigerte sich meine Lunge, zu atmen, und all mein Blut verabschiedete sich in meine Beine. Dazu kam, das...