Kapitel 1

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Jasons Sicht

Ich bog in die nächste kleine Gasse rein. Ich hatte Glück, dass es nicht geregnet hatte, sonst wären das Kopfsteinpflaster schwerer zu überwinden gewesen. Meine Beine schmerzten vor Anstrengung, aber wenn ich nicht weiterrennen würde, würde ich nicht mehr lange zu Leben haben. Es war eine leichtsinnige Idee diese Gang zu provozieren und es war nicht die erste dumme Idee von Louis. Doch er war der Boss und was unser Anführer sagte wurde ohne widerspruch ausgeführt, sonst wirst du ohne Gnade erwürgt, erschossen oder erhängt. Ich bog in die nächste kleine Gasse ein, die nur einen halben Meter breit war. Wenn ich hier nicht schnell genug war, würden sie mich erwischen und eine Kugel durch meinen Kopf jagen. Das war nämlich mit unserem letzten Anführer passiert. Louis war noch nicht lange Boss. Vor knapp einem Monat haben wir Kevin tot vorgefunden mit einer Kugel im Kopf. Er war ein guter Anführer gewesen. Im Gegensatz zu Louis hatte er nicht nur Muskeln, sondern auch etwa im Kopf. Ich bin mir sicher, dass er nie gewollt hätte, dass Louis sein Nachfolger wird. Louis hatte sich den Posten einfach an sich gerissen.

Ich hört einen Schuss und Adrenalin schoss durch meine Adern. Die Kugel flog haarscharf an meinem Ohr vorbei. Ich wich einer Mülltonne aus. Kevin war wie ein Vater für mich. Er war ganz schön in Form mit seinen 28 Jahren. Als er gestorben war, hatte ich mir überlegt, ob vielleicht ich seinen Platz einnehmen sollte, doch mit meinen 18 Jahren, hatte ich noch zu wenig Erfahrung. Endlich war ich am Ende der kleinen Gasse angelangt. Ich wählte den rechten Weg um weiter zu rennen. Kurz danach bog ich noch Mals nach rechts. Dort standen zwei grosse Mülltonnen. Ich riss den Deckel auf und schmiess mich in rein. Es roch nach vergammelten Eiern und alten Milchkartons. Kurz darauf hört ich die Stimmen der anderen Gang, die an mir vorbeirannten. Aufatmend musste ich lächeln, obwohl es keinen Grund dazu gab.

Ich blieb noch einige Minuten liegen, bevor ich mich aufraffte und vorsichtig aus der Mülltonne stieg. Ich schüttelte mein - nicht merh ganz so - weisses, schweissgebadetes Shirt aus und kontrollierte meine Hosensäcke. Es wurde langsam ein wenig dunkel. Das würde den heimweg einfacher machen.

"Telefon, Messer, Pistole, Pfefferspray", flüsterte ich, um mir zu versichern, dass alles noch da ist.

Gut, sonst müsste ich in diese Mülltonne danach suchen. Ich hoffte, den anderen war nichts passiert. Mit 'den anderen' meinte ich alle ausser Louis. Ich hatte diesen Bastard noch nie gemocht. Ich wusste, dass es nicht die feine Art war jemandem den Tod zu wünschen, aber er wünschte uns mit solchen Aktionen offensichtlich auch den Tod. Voller Wut kam ich in unserer Grotte - wie wie sie nennen - an. Es war mehr eine unaufgeräumte, schmutzige und chaotische Halle, die teilweise durch einige Vorhänge zu kleinen Zimmer abgetrennt wurde. Alle ausser Louis und ich sassen schon alle auf dem Boden in einem Kreis und unterhielten sich über die heutige Aktion. Die Bruchstücke, die ich aus dem Durcheinander verstand deuteten, dass alle nicht besondes erfreut sind. Louis betrat den Raum. "Sind alle da?" Er sah sich um und zählte nach. Mein Blick wanderte zu seinen Finger und ich musste mir ein schmunzeln verkneifen als ich sah, dass er die Finger brauchte um zu zählen. Ich setzte mich neben Kyle, denn mit ihm verstand ich mich am besten. Wir waren mit unseren 17 Jahren die jüngsten aus der Gang. Ich erwarteten, dass Louis nun eine Strafpredigt hielt oder eine hirnlose Analyse startete.

Doch er meinte nur: "Also Leben alle noch." Dann verschwand er aus meinem Sichtfeld. Also keinen neuen Auftrag. Entweder prügelten wir uns mit anderen Gangs, versuchen unser Revier auszubreiten oder wir erledigten Aufträge. Wir bekamen Geld dafür Leuten Druck zu machen, wenn diese Schulden bei Dealern hatten. Manchmal mussten wir auch Auftragskillen. Das machten aber nur die Älteren von uns. Kyle neben mir atmete offensichtlich erleichtert auf. Aus reiner Gewohnheit stiegen wir beide auf das Dach des Gebäudes auf dem wir einen Ausblick über unser 'Revier' hatten. Ganz vorne auf dem Dach liessen wir unsere Beine baumeln. Die Sonne ging langsam unter und ein frischer Frühlingswind bliess uns durch die Haare.

"An was denkst du?", fragte mich Kyle. Ich dachte an diese dumme Aktion von heute. Doch noch viel mehr dachte ich an diesen immer wiederkehrenden Traum, der mich schon mein halbes Leben verfolgte. "An Nichts." Ich wusste, ich konnte ihm alles erzählen, aber heute war schon zu viel los. "Jason! Erzähl!", befahl er mir. Er kannte mich zu gut.

"Du weisst, ich kann nicht gut über solche Dinge reden." Ich wartete auf seine Ermutigung oder auf einen dummen Spruch oder sonst irgendwas. Doch er sass einfach da und wartete darauf, dass ich zu erzählen begann.

"Du weisst ja, dass ich früher oft aus dem Kinderheim abgehauen bin. Naja... Mit zwölf oder so waren es mehrere Tage. Ich sass auf einer Parkbank und hatte hunger. Hunger ist untertrieben. Für ein Stück Brot hätte ich gemordet." Diese Redewendung war in meiner Welt keine Redewendung. Es war eine Tatsache.

"Irgendwann am Nachmittag liefen ein Mädchen mit ihrem Vater vorbei. Sie schien wunschlos glücklich zu sein. Sie hatte eine Waffel in der Hand. Sie standen beide nur wenige Meter neben mir, als der Vater ihr sagte sie solle warten. Er ginge nur kurz in die Bank um Geld zu holen. Brav stand das Mädchen -das im gleichen Alter wie ich sein musste - da und schaute mich an. Ihre blaue Augen durchbohrten meinen Kopf. Ich weiss nicht, warum ich mir ihre Augenfarbe gemerkt hatte, aber dieser Blick brannte sich in meinem Gehirn ein. Naja... danach setzte sie sich einfach neben mich und schaute mich weiter an. Ich fragte sie, was sei. Sie schaute mich nur an und plötzlich begann sie zu lächeln. Ich war da noch ein kleiner Möchtegerngangster und hatte keine Ahnung von Mädchen, aber ich wusste, dass dieses Lächeln etwas war, dass man schätzen muss. Und ihr Lächeln... Phuuu... das war das schönste Lächeln, dass ich je gesehen habe. Ich fragte sie nach ihren Namen. Sie antwortete aber ich war zu dumm um den Namen zu verstehen. Sie schrieb mir den Namen auf ein Stück ihrer Serviette auf dieser die Waffel lag. Danach stand sie auf und ging. Die Waffel mit der Serviette hatte sie liegen gelassen. Vielleicht hatte sie gehört, wie laut mein Bauch knurrte..."

Falls ich sterben sollteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt