Kapitel 16

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- Jasons Sicht -
Es war die erste Nacht in der ich nicht wieder diese Albträume hatte. Seit Jahren war dies die erste Nacht in der ich wieder vernünftig schlafen konnte. Ob es an der grossen Erschöpfung, dem Adrenalin oder an ihr lag, war mir klar. Doch sich selbst so etwas eingestehen war nicht einfach. Ich war - seit ich 7 Jahre alt war - nie auf irgendjemanden auf irgendeineweise Angewiesen. Ich hätte mich auch alleine durch das Leben schlagen können. Ich hätte bestimmt irgendwo einen Job gefunden und einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Doch die Albträume hätten bestimmt nicht aufgehört. Joyce war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen, was ich im Moment gebrauchen konnte. Ruhe um zu überlegen wie es weiterging. Was Joyce nicht wusste, war, dass ich keinen Plan oder etwas in der Art hatte. Ich fuhr einfach auf gut Glück los. Was sollte ich auch sonst tun? Kyle hatte mir heute Morgen geschrieben, dass sie im Moment noch zu Hause waren, da sie noch keinen Anhaltspunkt hatten, wo wir uns aufhalten könnten. Ich wollte ihnen keinen geben. Das Einzige, was mir ein wenig Angst bereitete war dieser Technikfreak. Vielleicht könnte er die Koordinaten meines Telefons aufspüren. Ich beschloss kurzerhand mir ein neues Telefon zu kaufen, sobald ich die Möglichkeit dazu hatte. Gleichzeitig schoss mir auch der Gedanke in den Kopf, dass er vielleicht die Gespräche zwischen mir und Kyle wiedergeben könnte. Und was mir Kyle dann passieren würde, war klar. Kaum hatte ich den Gedanken vervollständigt vibrierte mein Telefon. 'Kyle' stand auf dem Bildschirm.

"Yo, was' los?", fragte ich möglichst leise in mein Handy, da ich Joyce nicht aufwecken wollte.

"Ist Joyce bei dir?", fragte Kyle ohne mich zu begrüssen. Sein Ton deutete mir, dass etwas passiert war.

"Sie schläft auf dem Beifahrersitz. Wieso?"

"Weil sie das, was ich dir gleich sagen werde nicht auf diese Art erfahren sollte." Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus.

"Was ist passiert?", fragte ich ihn verunsichert. Eine kleine Pause.

"Es tut mir leid.", flüsterte er betreten. Ich errinerte mich an den Gedanken mit dem Technikfreak. Sich in einer solchen Situation auf die Strasse zu konzentrieren, war keine einfache Sache. Ich wollte nicht länger im Dunkeln tappen. Jede einzelne Silbe betonte ich:

"Was ist los?" Für einen kleinen Moment hatte ich vergessen, dass Joyce neben mir sass. Ich hatte ein wenig zu laut gesprochen, denn verschlafen schaute sie mich an und fragte verwirrt:

"Hm? Hast du was gesagt?" Ich drückte Kyle weg und steckte das Telefon zurück in die Hosentasche.

"Nein.", murmelte ich. Sie nickte mir verdächtig zu, als ob sie wissen würde, dass ich log. Danach schlief sie nicht mehr und ich konnte Kyle's folgende Anrufe nicht annehmen.

-

'Weil sie das, was ich dir gleich sagen werde nicht auf diese Art erfahren sollte.' Dieser Satz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie ein Boomerang kam der Gedanken immer wieder zurück. Egal wie weit ich ihn wegwarf. Nicht sofort, doch nach einer Zeit kam er wieder zurück. Joyce und ich redeten während der Autofahrt nicht viel miteinander. Sie schien mit ihren Gedanken kilometerweit weg zu sein. Ich nicht anders. Vielleicht dachte sie an Becca oder ihren Vater. Vielleicht auch an ihren Freund, falls sie einen hatte. Worauf ich aber gewettet hätte. Sie war nicht unattraktiv. Ich wusste nicht weshalb meine Gedanken plötzlich zu Kevin schwankten. Als er noch Chef der Gang war... Ich würde nicht in diesem Wagen sitzen und vor meinen eigenen Leuten fliehen. Kevin war so etwas wie ein Vater. Er war zwar streng und diszipliniert, doch er war ein wahnsinnig rücksichtsvoller und gutherziger Mensch gewesen. Als ich frisch in die Gang kam, hatte er unfassbare Geduld. Er hat mir beigebracht jemanden einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Nicht nur wie man zielt oder in welchem Einkel man am besten zuschlag. Er hatte mir beigebracht Leute psychisch zu analysieren. Immer einen Schritt voraus zu sein. Er hatte mich gelehrt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Auch wenn der Gedanke absurd war, hatte er sich in meinem Kopf verschanzt: War es Schicksal, dass Kevin starb, als er uns die wichtigsten Dinge gelehrt hatte? War sein 'Zweck' damit erfüllt? Ich wusste, dass ich nie eine Antwort auf diese Fragen bekommen würde, doch vielleicht war es auch gut so.

Ein Blick zu Joyce zeigte mir, dass sie wieder schlief. Da es dunkel geworden war und ich ebenso müde war, beschloss ich das nächstbeste Hotel aufzusuchen. Ich fuhr von der Autobahn auf die klapprige Landstrasse und wusste, dass mich diese Nacht kein 5-Sternehotel erwartete. Nach einigen Minuten sahen wir die ersten Häuser. Der Stadtkern - wenn man soetwas Stadt nennen konnte - war nicht gross. Doch auf einem kleinen, feinen Haus war in billiger Leuchtschrift HOTEL geschrieben. Ich wusste nicht wie Joyce bei diesem Strassenbelag noch schlafen konnte. Durch die Scheibe konnte ich sehen, dass es geöffnet hatte. Ich stieg aus und beschloss Joyce erst nach dem einchecken zu holen. Sie würden in so einem Kaff schon keine Namen und sonstige Angaben von uns verlangen. Ich betrat das Holzhaus. Es gab keine Lobby. Direkt nach dem Eintreten war rechts die Reception, die sozusagen in der Wand war. Dort sass eine ältere Dame, die mir herrlich zulächelt, als sie mich sah.

"Guten Tag. Was kann ich für dich tun, Schätzchen?", begrüsste sie mich aufgeregt. Ich vermutete, dass sie nicht oft Gäste hatte. Ich stützte mich auf dem Schmalen Holzbalken, der und von einander trennte.

"Ich bräuchte ein Zimmer für zwei. Wäre das machbar?" Sie hatte schon einige Falten und weisse Haare, doch wohl das herzlichste Lächeln, das ich je gesehen hatte.

"Natürlich, Liebes. Ist deine Freundin noch unterwegs?" Weshalb die Leute immer dachten, dass ich eine weibliche Person bei mir hatte...

"Sie ist bei der Fahrt eingeschlafen. Ich wollte sie nicht wecken." Die Frau schrieb sich etwas auf ein Papier und legte den Schlüssel auf die Ablage. Ich bezahlte das Zimmer und ging wieder zum Wagen. Zum Glück hatten wir keine finanziellen Probleme. Die Karte mit dem gesamten Vermögen der Gang war auf dieser einen Kreditkarte. Und die hatte ich. Es war wohl nicht schlau von Louis, das gesamte Geld auf ein einziges Konto zu setzen. Dass er die Karte sperren könnte, war meine einzige Sorge. Im Notfall jedoch hatte ich noch meine persönliche Karte von Früher. Nachdem ich die Taschen vor das Zimmer gestellt hatte, beschloss ich Joyce nicht zu wecken und versuchte sie so sanft wie möglich zu tragen. Sie war nicht schwer, ich hatte schon schwerer Gewichte gehoben. Mit meinem Fuss schubste ich die Türe des Autos zu. Die nette Dame der Rezeption hielt mir schmunzelnd die Türe auf und zwinkerte mir zu, als Joyce im Schlaf ihre Arme um meinen Hals schlang. Ich trug sie die knarrende Treppe so leise wie möglich hoch. Irgendwie schaffte ich es die Türe des Zimmer aufzumachen. Es war ein kleines aber feines Zimmer. Ich legte Joyce vorsichtig auf das Bett und zog ihr die Decke über den Körper. Sie sah so unbekümmert aus, wenn sie schlief. 'Weil sie das, was ich dir gleich sagen werde nicht auf diese Art erfahren sollte.', fiel mir wieder ein. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, war es schwer den Blick von ihr abzuwenden. Nachdem ich die Taschen ins Zimmer geholt hatte, verliess ich das Haus nochmals um Kyle anzurufen, der trotz später Uhrzeit noch wach war.

"Endlich rufst du an.", begrüsste er mich.

"Sprich klartext.", bat ich ihn, da ich schon den ganzen Tag darauf warten musste. Er zögerte einen Moment.

"Das mit den Briefen von Louis hast du ja mitbekommen, oder? Ich weiss zwar nicht was drauf stand, doch heute wurde Joyce's Vater tot in seinem Bett gefunden. Die Knarre noch in der Hand, soviel ich weiss." Die letzten Worte sprach er schneller aus, als hätte er es in Eile. Doch er wollte nur, dass sein Teil der Aufgabe so schnell wie möglich erledigt war. Das eigentliche Werk musste ich Vollenden. Und das liess mich kalt den Rücken hinunter laufen. Nicht der Fakt, dass ihr Vater tot war liess mich Gänsehaut bekommen. Die Folgerung, dass ich es war, der ihr es erzählen musste machte mir Angst.

"Shit.", war das einzige, das meinen Mund verliess. Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Ich hoffte er würde noch etwas hinzufügen, zum Beispiel, dass das alles ein Dummer Scherz war, doch die Stille blieb.

"Danke für's bescheid sagen, Bruder.", sagte ich schliesslich.

"Warte nicht zu lange damit... Es ihr zu sagen. Die Zeit wird nichts daran ändern." Da sagte er die Wahrheit.

"Ruf mich an, wenn du mehr Informationen hast.", verabschiedete ich mich von ihm. Erst jetzt realisierte ich, was ich tun musste. Ein Mädchen, das mich kaum kannte und ihr ganzes Leben zurücklassen musste, würde erfahren, dass ihr Vater tot war. Und das alles, weil eine bescheuerte Waschmittelfirma mehr Erfolg haben wollte. Jeder einzelne Schritt, der mich näher zum Hotel führte, liess mich immer mehr realisieren. Ich legte mich ins Bett und musterte Joyce nochmals. Es fiel mir schwer sie jetzt anzusehen, doch mein Blick von ihr zu wenden war ebenso schwer. Irgendwann fielen mir die Augen zu vor Müdigkeit.

Falls ich sterben sollteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt