Kapitel 3

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- Joyce's Sicht-

Zum letzten Mal für fünf Wochen sass ich im Mathezimmer, denn morgen war der erste Tag der Herbstferien.

"Seite 54.", wiederholte der Lehrer. Unter dem genervten Stöhnen der Klasse versuchte sich der Lehrer durchzusetzten, was ihm erstaunlich gut gelang.

Ich öffnete meine Tasche und zog mein Mathenbuch raus, als mir ein kleiner Zettel auffiel , der ganz oben in der Tasche lag. Verwirrt entfalltete ich ihn. 'Nach der Schule hinter dem Parkplatz. Es ist wichtig.' Ich runzelte die Stirn. Was soll das?

Ich spürte den Blick meiner Tischnachbarin auf mir, weshalb ich den Zettel zusammenknüllte und in meine Hosentasche steckte. Ich mochte sie nicht. Keine Ahnung warum. Vielleicht lag es an ihrem mit Tonnen Make-Up bedecktem Gesicht, dass man überall sah: auf der Werbung für den Schulball, auf der Werbung für den neuen Klassensprecher oder in der Mensa. Denn immer wenn man jemandem laut und künstlich lachen hörte und man sich nach dem Geräusch umdrehte, sah man sie. Vielleicht ging ich auch einfach mit zu vielen Vorurteilen auf Personen zu.

Viel lieber hätte ich, dass Becca neben mir sitzen würde, welche aber zwei Reihen hinter mir sass. Becca war meine beste und einer meiner wenigen Freunde. In der achten Klasse hatte mein Vater mich mal mit seinem Lambourgini von der Schule abgeholt und seit dem schienen alle zu meinen ich sei eine verwöhnte, eingebildete Ziege. Was beides nicht stimmte. Ja, mein Dad hatte nunmal ein grosses Vermögen, aber das musste ja nicht heissen, dass ich verwöhnt war.

"Mrs Willson? Muss ich sie zum Rektor schicken?" Heute waren alle Lehrer strenger als sonst, denn es war schwierig sich am letzten Tag vor den Ferien durchzusetzen.

"Nein, tut mir Leid.", murmelte ich fast unhörbar. Ich kramte mein Mathebuch hervor.

Wer würde mich nach der Schule sehen wollen? Ich verbrachte die ganze Stunde damit zu grübeln, wer es sein könnte. Und vorallem wer so flink war den Zettel unbemerkt in meine Schultasche zu schmuggeln. Als die Schulglocke klingelte hörte man von überall Jubelschreie und aufgeregte Schüler. Endlich waren Ferien.

"Wo warst du heute mit den Gedanken?", fragte mich Becca nach der letzten Stunde, der es wohl aufgefallen sein musste. Wortlos drückte ich ihr den Zettel in die Hand. Im Gang herrschte fast Menschenleere.

"Wer hat den geschrieben?"

"Weiss nicht, lag in meiner Tasche." Sie hatte ihren Blick immer noch auf das kleine Papierstück gerichtet. Offensichtlich probierte sie die Handschrift wiederzuerkennen. "Ich kenn die Handschrift nicht.", bestätigte sie mir meinen Verdacht.

"Ich werde hingehen.", verkündete ich und realisierte es erst danach, dass ich es laut ausgeprochen hatte.

"Dann komm ich aber mit. Ich will nicht, dass du alleine gehst." Doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich alleine hingehen sollte. Ich wusste nicht wieso. Es war nunmal mein Bauchgefühl.

"Ahhh... ich glaub ich weiss, wer ihn mir geschrieben hat! Du solltest nicht mitkommen. Es ist besser wenn ich mich alleine mit der Person treffe.", improvisierte ich, als ob ich plötzlich eine Erleuchtung gehabt hätte.

"Und wer ist es?" Sie sah mich misstrauisch an.

"Ähm.... ein Typ! Ich habe ihn letztens in der Strassenbahn kennengelernt.", log ich sie vom schlechten Gewissen ermahnt an. Ich wusste, dass sie es mir nicht glaubte, denn ich hatte im Moment kein Interresse an Jungs. Becca nickte nur. Insgeheim war ich ihr dankbar nicht weiter darauf rumzureiten.

"Wir sehen uns morgen früh bei Starbucks." Sie nahm mich in den Arm und drückte mich fester als sonst, als wolle sie sagen: Pass auf dich auf! Ich nickte und verabschiedete mich. Ich mochte es, dass wir uns Dinge auf einer für andere unverständliche Basis mitteilen konnten.

Ich trottete Richtung Parkplatz. Je näher ich kam, desto schneller pochte mein Herz. Ich sah niemanden. Ich setzte mich auf einen Stein und schaute mich immer wieder um. Meine Gedanken spielten verrückt und ich stellte mir sinnlose Dinge vor. Zum Beispiel wie jemand in einem Wolfskostüm aus dem Gebüsch springen würde...Vermutlich wollte ich mich ablenken, denn ich ich war ganz schön nervös.

Je länger ich dort sass desto mehr begann ich an den Händen zu schwitzen. Ich schaute auf meine Uhr. Schon seit eine ganze Stunde sass ich nun da. Vielleicht wollte mich jemand aus der Schule ärgern. Ganz schön erbärmlich für die elfte Klasse. Ich dachte, dass man mit 17 Jahren ein bisschen mehr Niveau hätte. Doch aus irgendeinem unerklärlichen Grund blieb ich trotzdem auf dem Stein sitzen.

Es dunkelte schon, als ich mich vom Stein aufraffte und Richtung nach Hause ging. Insgesamt kam ich drei Stunden später als sonst nach Hause. Das grosse Vortor, das unser Grundstück von der Strasse musste ich mit meinem Fingerabdruck öffnen, der gescannt wurde. Ich fand das ganz schön übertrieben, aber mein Vater zeigte gerne, dass er etwas erreicht hatte. Auch wenn es nur ein Waschmittel war, dass er entwickelt hatte.

Ich trat in unser Haus - das man auch als Villa bezeichnen konnte - ein. Meine Tasche stellte ich auf dem weissen Marmorboden ab. Die Ràume waren eigentlich viel zu gross für zwei Personen. Mein Vater sass am gedeckten Tisch auf dem einige Pfannen standen. Mein Vater drehte sein Wasserglas hin und her. Sein gekrümmter Rücken verdeutlichte mir, dass etwas nicht stimmte.

"Da bist du ja endlich!!!" Er atmete erleichtert aus, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Er schein besorgt zu sein. Sonst war er nie so, wenn ich mal später mach Hause kam.

Falls ich sterben sollteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt