Leise und bedächtig rieselten dicke Schneeflocken vom Himmel. Die Scheiben waren vom Kondenswasser an den Seiten beschlagen, nur von der Mitte aus hatte man eine nebelverschleierte Sicht auf den Himmel. Hier und da entdeckten kleine Eiskristalle das Licht der Welt und entfalteten sich zeitlupenartig auf dem kühlen Glas. Louise saß hinter ihrem Schreibtisch im New Yorker Headquarter von Ward Brothers & Co.. Ein Pappbecher mit dem Logo von Pete's Roastery hielt fest in der Hand umklammert und auf dem Laptopbildschirm zog bereits seit einigen Augenblicken die Uhr des Screensavers willkürlich ihre Kreise. Gedankenverloren stierte Louise aus den bodentiefen Fenstern des Büros im 32 Stock auf die noch höher liegenden Wolkenkratzer des Big Apples, die von fröhlichen Flocken wie von Konfetti umspielt wurden.
Die ersten Wochen des neuen Jahres waren wie im Fluge vergangen und der Schnee an der Ostküste hatte Louise bereits bei ihrer Ankunft aus London begrüßt. Aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse vor ihrer Abreise, hatte sie sich spontan dazu entschlossen die letzten Tage des Jahres und den Jahreswechsel in dem Wochenendhaus der Familie auf Martha's Vineyard zu verbringen. Am Weihnachtstag selbst aß sie gemeinsam mit Onkel Dickie und ihrer Tante zu Abend und flog am nächsten Morgen mit einer kleinen Propellermaschine auf die Insel. Typisch für Louise galt dieser Ausbruch nicht dem reinen Vergnügen, denn sie hatte ohnehin unendlich viel Liegengebliebenes abzuarbeiten. Das Häuschen am South Beach war Louise sehr wohl bekannt. Als Kind hatte sie mit ihren Eltern hier jeden Sommer verbracht und selbst ihr Vater achtete stets darauf sich wenigstens ein paar Tage im Jahr gemeinsam mit seiner Familie dort aufzuhalten. Diese Abwesenheit von ihrem eigenen Zuhause war für Louise nicht zu vergleichen mit einer Geschäftsreise oder einem gewöhnlichen Aufenthalt in einem Hotel. Mit diesem Haus verband sie unheimlich viele schöne Erinnerungen an ihre Kindheit, sodass es sich jedes Mal, wenn sie die Tür öffnete so anfühlte, als würde sie heimkehren.
Nichtsdestotrotz verbrachte Louise auf dieser wunderschönen Insel die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr fast ausschließlich damit, die liegengebliebenen Aufgaben aufzuarbeiten. Und genau hierfür eignete sich das eigens von ihrem Vater eingerichtete Arbeitszimmer mit seinen meterhohen Regalwänden aus feinstem Massivholz vollgestellt mit den Klassikern der Weltliteratur und dem antiken Kirschbaumschreibtisch vor der großen Fensterfront ideal. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, kam ihr die Arbeit, die sich während ihrer Abwesenheit durch die zeitintensive Vorbereitung und Durchführung der PR-Tour mit Pierce angehäuft hatte, sehr gelegen. Es half ihr dabei ihre Gedanken zu fokussieren nämlich darauf, was ihr trotz immer wieder aufkeimender Zweifel am wichtigsten war - das Familienvermächtnis von Ward Brothers & Co.
Zugegebenermaßen jedoch hoffte sie, dass sie diese Flucht vor New York und das Hineinstürzen in die Arbeit ihr ebenfalls helfen würde, ihr Gedankenkarussell zu verlangsamen. Die Tage in London, die nicht nur von außerordentlicher Dramatik mit ihrem Schützling Pierce gespickt waren, sondern auch sehr geprägt waren von der Anwesenheit eines smarten Briten, der im mittlerweile vergangenen Jahr so unverhofft in ihr Leben geprallt war. Die Ereignisse der letzten gemeinsamen, turbulenten Nacht hallten deutlich spürbar nach. Sie erwischte sich stets dabei, wie ihre Gedanken bei knappen Auszeiten beim Essen, bei kurzen Spaziergängen an den eisigen, einsamen Strandabschnitten oder beim Versuch einzuschlafen immer wieder um ihn kreisten. Für jeden normalen Menschen hätten die Nachwirkungen dieser Nacht, diese Nähe, diese Wärme und vor allem dieser Kuss überaus positive Spuren hinterlassen. Für Louise allerdings fühlte sich das Ganze rückblickend ein wenig seltsam an.
Tom jedoch war nach dieser besagten Nacht fast so wie immer, als wäre nie etwas gewesen. Auch wenn es wohl aufgrund der Zeitverschiebung und der Feiertage, die er im Familien- und Freundeskreis verbrachte seinerseits ein wenig ruhiger wurde, hatte er noch am Weihnachtstag besorgt per SMS nachgefragt, ob sie gut in New York gelandet sei und ihr anschließend einen bebilderten Weihnachtsgruß bestehend aus Bobby mit Rentierhörnern gesandt. Seine Kontaktversuche endeten jedoch nach der Bemühung sie um Mitternacht des Jahreswechsels, auch wenn es in London bereits 5 Uhr morgens war, telefonisch zu erreichen.
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If we meet again... [Wattys 2018 Longlist]
ספרות חובבים[Wattys 2018 Longlist] Arbeit, Arbeit, Arbeit - das ist der Lebensinhalt der Karrierefrau Louise Ward. Als Teil eines großen Familienimperiums, hat sie ihr Leben voll und ganz Ward Brothers & Co. verschrieben, bis zufällige Begegnungen, einige Earl...