I. Kalifen: Arleen

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Ihr Herz klopfte wie wild, als sie den schneeweißen Hasen beobachtete. Sein Fell war so weich und er war so fett, dass Arleen das Wasser im Mund zusammenlief. Er würde eine so gute Mahlzeit abgeben, die sie schon seit Tagen nicht mehr hatte. Als erstes würde sie sein Fell häuten. Dies könnte sie auf dem Markt in Kalifen verkaufen, ihrer Heimatstadt. Das Fleisch würde sie behalten und eine warme Suppe daraus machen.
Und...

Plötzlich zuckte die feine schnauze des Hasen, er richtete sich auf und seine Ohren zuckten nervös.„verdammt." flüsterte Arleen, knirschte mit den Zähnen und versuchte eine bequemere Schusshaltung zu finden, denn wenn sie den Hasen nicht bald erlegte, würde er sie wittern und weggelaufen.
Langsam atmete sie ein und aus, konzentrierte sich auf ihren Atem der in kleinen Dampfwolken in dem Kiefernwald verschwand und spannte den Jagdbogen, den sie gestohlen hatte um zu überleben.
Ihr Arm zitterte, als sie die Sehne weit zurück zog, sodass die Feder am Ende des Pfeil ihre Nase kitzelte und ihr Finger schmerzte mit dem sie die Sehne hielt.
Nur noch ein paar Sekunden. Dachte Arleen, ihr Schweiß lief ihr den Nacken herunter, lief ihr über die Stirn und in die Augen.
Arleen blinzelte angestrengt. Sie MUSSTE diesen Hasen erwischen. Nun lief ihr auch noch eine Träne über die Wangen, denn gerade jetzt machte sich ihre Erkältung bemerkbar.
Arleen zitterte. Ihre Augen und ihre Nase tränten und brannten wie verrückt aber sie konnte den Bogen nicht sinken. Sie musste diesen Hasen haben sonst... Da rutschte ihr schweißnassser Finger an der Sehne ab, der Pfeil flog ein paar lächerliche Meter, bevor er ohne jeglichen Schwung im Kniehohen Schnee landete, und nicht einmal in der Reichweite des Hasen liegen blieb.

Als wollte der Hase sie verspotten, zuckte er nicht einmal, bevor er seelenruhig im verschneiten Gebüsch verschwand.
Zu allem Übel rieselte auch noch ein Stück Schnee von einem Ast über ihr, genau in ihren Nacken.„mist, mist, mist!" murmelte Arleen, bevor sie die Augen zusammen kniff um die Kälte und den Schmerz über ihr Versagen, über sich ergehen zu lassen. Dann beruhigten sich auch ihre Nase und ihre Augen wieder und sie stand schwankend auf. So ein Mist!

Und dabei hätte Arleen gerade heute ein warmes Mahl im Magen gebrauchen können, denn selbst im Sommer, in jeder Jahreszeit in diesen verfluchten Bergen war es kalt, es lag Schnee und nur manchmal schien die Sonne. Aber diese zeigte sich schon seit Tagen nicht mehr. Die Karmenen störte dies nicht besonders. Sie hatten eh nur 2 Jahreszeiten. Den Hochwinter und den Winter. Der Winter war also Frühling, Sommer und Herbst aber im Hochwinter, war es zu gefährlich und zu kalt in den Bergen um auch nur daran zu denken, zu flüchten aus diesem verdammten Kaff.
Doch dies hatte Arleen vor, nur nicht halt im Hochwinter.

Zu flüchten.
Flüchten.
Das Wort ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, als sie vorsichtig ein paar Schritte zu dem Pfeil hinlief um ihn aufzuheben. Ihre taube Hand zitterte als sie ihn mit inzwischen eiskalten Fingern hochnahm und inspizierte. Er war nicht kaputt. „Gott sei Dank" flüsterte sie heiser und steckte ihn ihren behelfsmäßigen Köcher zurück. Pfeile waren knapp und vor allem wenn sie kaputt waren ohne irgendwas getroffen zu haben, besonders verschwendet. Aber trotzdem hatte sie nichts zu essen.

Natürlich gab es in der Waisenhütte in der sie lebte Essen vom Dorfoberhaupt, allerdings mussten sie es unter sich aufteilen und das war meist ziemlich ungerecht.

Arleen verglich die Waisenhütte oft mit einer Wolfshöhle. Es gab eine Hierarchie, der Rudelsanführer leitete die restlichen Wölfe, suchte sich das beste Essen heraus und schlief an dem besten Platz. Wenn jemand anders ihm den Platz streitig machte, musste er kämpfen.

Genau so ging es auch bei ihnen zu. Um das ganze noch schlimmer zu machen, bestand die Tatsache, dass sie das einzigste Mädchen in dem Wolfsrudel war. Sie war die einzigste Schwache, die unterste von den untersten und das Demütigungsopfer von allen. Von Allen. Es interessierte sich niemand auch nur einen Dreck um sie.
Selbst wenn ein paar ältere Männer ihre Schikanierung mitbekamen, lachten sie sie nur aus. Arleen war damals zu schwach um Silas, geschweige denn irgendjemand heraus zu fordern um etwas gescheites zu essen zu bekommen. Also war sie auf den Wald und auf ihre erbärmlichen Schießkünste angewiesen um nicht zu verhungern.

Trägerin des Lichts - Der KönigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt