Prolog

746 26 3
                                    

"Flo! Flo, wach auf! " Unsanft packte eine kleine Kinderhand seine Schulter und rüttelte ihm aus seinem traumlosen Schlaf. "Drüben ist es still! Sie schlafen endlich! " Das Mädchen hörte gar nicht mehr auf, so begeistert schien sie von der Tatsache zu sein, dass ihre Eltern endlich schliefen. "Du kannst aufhören, Joeleen! Ich bin ja wach. " Florian schob ihre Hand weg und kletterte aus seinem bunten, über und über mit Stickern beklebten Kinderbett. Das 10 jährige Mädchen mit den langen, braunen Haaren hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. "Dann lass uns jetzt gehen!" Auf Zehenspitzen schlichen die beiden Kinder aus dem Zimmer hinaus auf den dunklen Gang. Ein leises Knarzen durchschnitt die Stille und sofort hielten sie erschrocken die Luft an und lauschten auf Schritte, oder Stimme, aber die Tür am Ende des Flures blieb geschlossen und kein weiches Licht sickerte darunter hindurch. "Sie schlafen... " erleichtert atmete der 10-jährige Florian aus und seine Muskeln entspannten sich. "Natürlich schlafen sie, du Idiot! Dachtest du ich würde uns ans Messer liefern? " "Du hast schließlich auch die Luft angehalten!" Joeleen schnaubte empört, drehte ihm so schwungvoll den Rücken zu, dass ihre Haare ihr für eine Sekunde wie ein Heiligenschein um den kleinen Kopf flogen und huschte dann hinüber zur Treppe, die nach unten führte. "Vielleicht war es auch so eine schräge Zwillings-Geschichte! Ich habe die Luft angehalten, weil du die Luft angehalten hast, oder so." Hastig hüpfte Flo seiner Zwillingsschwester hinterher und ließ seinen Blick über die Familienfotos an der weißen Wand gleiten. Joeleen und er als Babys, als Kleinkinder, bei der Einschulung und mit ihren Eltern. Immer die beiden Zwillinge. Es gab kein Bild auf dem sie alleine waren, sogar auf dem Portrait im Geldbeutel seiner Mutter waren sie zusammen. So lange er sich erinnern konnte waren sie beide unzertrennlich gewesen. „Hättest du den Ball nicht verschossen wären wir jetzt gar nicht erst in dieser Situation!" „Jetzt komm schon, Florian! Ich hab dir doch schon tausend Mal erklärt, dass das Fenster noch nicht da war, als ich gezielt habe. Das hat sich ABSICHTLICH in den Weg gestellt!" Flo rollte mit seinen Augen. „Und als nächstes erzählst du mir, dass der Goldfisch im Teich des Nachbarn mit dir geredet hat!" „Ähm..." „Ist auch egal. Auf jeden Fall finde ich es unfair, dass Mama auch MIR den Game Boy weggenommen hat! Ich habe doch gar nichts gemacht." „Deshalb sind wir ja noch wach." Zusammen huschten die Kinder durch die dunkle Küche, dann das Wohnzimmer, um schließlich vor einer verschlossenen Tür stehen zu bleiben, die aus irgendeinem Grund dunkler und bedrohlicher wirkte, als alle anderen. „Und du bist dir sicher, dass sie da unten sind?" Joeleen schluckte schwer und sah sich zu ihrem Bruder um, nur um ihn nicken zu sehen. „Hast du etwa Angst?" „Natürlich nicht! Ich wollte nur sicher sein!" Das kleine Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen und öffnete die Tür zum Keller. Die beiden Kinder holten tief Luft, als wollten sie auf den Grund des Meeres tauchen und stiegen dann die lange, steile Treppe hinunter in den Keller. Sie beide hatten eine unangenehme Gänsehaut, doch natürlich hätte keiner von ihnen es gegenüber dem anderen zugegeben. Es war Florian, der den Lichtschalter fand und sobald das gelbe Licht den tiefsten Punkt ihres Hauses flutete wirkte es nur noch halb so unheimlich. Licht hatte doch eine gewisse Magie. „Komm' mit!" Flo nahm seine Schwester an der Hand und zog sie mit sich, zielstrebig auf ein staubiges Regal zu, das neben einem großen... etwas stand. Er konnte nicht erkennen, was es war, da es von einem weißem Laken bedeckt wurde, doch es war mindestens doppelt so groß wie sie. Joeleen interessierte sich nicht für das Möbelstück. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und starrte hinauf zum obersten Regalbrett auf dem, in einem kleinen Karton, ihre beiden Game Boys mit den Spieledisketten lagen. „Und wie kommen wir jetzt da ran?" „Komm' auf meine Schultern! Zusammen sollten wir da hoch kommen!" Geschätzte tausend Versuche später hatten die beiden Zwillinge es geschafft und Florians Schwester saß, mehr oder weniger sicher, auf seinen Schultern. „Bitte beeil dich, ja? Du bist verdammt schwer..." „Jetzt tu' nicht so! Du bist bestimmt doppelt so schwer wie ich!" „Also erstens übertreibst du und zweitens sitzt du deshalb auf meinen Schultern!" Geschickt angelte Joeleen nach ihren Schätzen, doch genau in diesem Moment kam Flo ins Wanken und seine Beine knickten ein. Die beiden Kinder fielen zu Boden. Hilfesuchend versuchte das Mädchen sich noch irgendwo fest zu halten, doch sie erwischte nur das weiße Laken über dem riesigen Möbelstück und riss es mit sich zu Boden. Flo und Joeleen kullerten übereinander. Das Mädchen hatte die beiden Game Boys fest an die Brust gedrückt, als das weiße Betttuch sich über sie legte und über den Kopf ihres Bruders ergoss sich ein Hagel aus Spiledisketten. Mit angehaltenem Atem und klopfenden Herzen lauschten sie nach oben, ob das Scheppern ihre Eltern geweckt hatte, doch es blieb still. „Ist alles in Ordnung, Flo?" Nuschelte sie unter dem Laken und versuchte verzweifelt sich irgendwie heraus zu strampeln. „Ja, es ist alles klar." Er lehnte sich vor und zog seiner Schwester das Betttuch vom Kopf. „Okay, wir haben die Game Boys. Jetzt lass uns wieder hoch gehen!" Plötzlich blieb Flos Blick an dem riesigen etwas hängen, das vorher so versteckt unter dem Laken gelegen hatte. Es war ein Gemälde, prunkvoll in Gold gerahmt. Feine Pinselstriche hatten eine scheinbar endlose Grasfläche auf die Leinwand gezaubert mit einem majestätischen Gebirge am Horizont, um dessen höchsten Gipfel eine dunkler Wolkenring wie ein Heiligenschein kreiste. So wunderschön es auch war... aus irgendeinem Grund wirkte es einschüchternd... es machte Flo Angst. Joeleen blinzelte und stand langsam auf. „Wow... warum... warum lässt Mama das hier unten verstauben?" „Also ich kann sie gut verstehen..." Murmelte Flo und kaute unwillkürlich auf seiner Unterlippe herum. Er wollte hier weg! Dieses Bild hatte etwas... unheimliches... Seine Schwester schien das nicht so zu sehen. Fasziniert schlich sie auf das Bild zu, das mindestens doppelt so groß war wie sie und stieß mit ihren kalten, nackten Füßen gegen etwas, was da nicht hin gehörte. Eine kleine, dunkle, hölzerne Schatulle. Sie mussten sie zusammen mit den Game Boys vom Regal gerissen haben. Ganz im Bann des Kellers gefangen hob Joeleen es auf und öffnete den Deckel, begleitet von einem leichten knarzen der uralten Scharniere. Das glänzen sprang ihr sofort ins Auge. Wir versuchen es gerne zu verbergen, aber wenn man es genau nimmt sind wir Frauen alle nur Elster. Manche mehr und manche eben weniger. Bei allen, was glänzt und schimmert ist es mit uns vorbei, wenn man es dann noch als Schmuck tragen kann... In der Schatulle lagen, neben einer einfachen Ledertasche, zwei kleine, goldene Ringe. Nicht wie die, die ihre Eltern trugen, sondern viel... kleiner, eleganter, filigraner... Wie hypnotisiert nahm sie einen heraus und steckte ihn sich an den Finger. Er passte, als wäre er für sie geschmiedet worden! „Flo, schau Mal! Da sind zwei drin! Probier du den andern an!" Seine Schwester hielt ihm die Schatulle hin, doch er wich davor zurück, als wäre es Gift. „Nein... lieber nicht. Joeleen, bitte lass uns wieder hoch gehen... Das ist alles nicht richtig... Wir gehören hier nicht her, du solltest dieses Ding nicht am Finger haben!" „Was redest du da für einen Quatsch?" Lachend nahm sie den zweiten Ring aus der Schatulle und drückte ihm das Schmuckstück in die Hand. „Du siehst mal wieder Gespenster!" Verzückt drehte sie sich ein Mal um sich selbst und stolperte dabei gegen das Bild. Nur, dass sie nicht gegen das Gemälde stolperte, sondern in das Bild hinein! Für eine Sekunde verschwand ihr kompletter Ellenbogen zwischen Farbe und Stoff. Doch anstatt vor Schreck aufzukreischen wurden ihre grünen Augen groß, sie machte langsam einen Schritt zurück und streckte dann vorsichtig ihre Hand aus. „Joeleen!" Flo sprang auf, den Ring in der hohlen Hand und rannte zu seiner Schwester, doch als er ihr besorgt die Hand auf die Schulter legte waren ihre Fingerspitzen schon zwischen der Farbe verschwunden. Er hätte sie am Handgelenk packen und zurückziehen sollen. Er hätte seiner Schwester, so schnell wie er konnte den Ring vom Finger reißen sollen und sie an den Haaren wieder zurück auf ihr Zimmer zerren sollen. Das hätte ihm so viel erspart... So viel weniger Tränen... So viel weniger Schmerz...So viel weniger Narben. Doch Flo hatte es nicht getan. Der Schreck lähmte seine Muskeln. Plötzlich ging ein Ruck durch Joeleens Körper. Sie stolperte nach vorne, fiel in das Bild hinein uns riss ihren Bruder mit. Florian schrie auf, als er ohne halt auf den dunklen Holzboden fiel. Der Geruch von Pferden, Stroh und Regen hing in der warmen Luft, die abrupt von einem kalten Luftstoß unterbrochen wurde, der einen Schrei an sein Ohr trug. „Vater! Nein!" Es war ein junges Mädchen, etwa in ihrem Alter. Lange, rote Haare fielen ihr über die Schultern, zwischen denen zwei spitze Ohren hervor lugten. Sie kniete neben einem Körper, der leblos am Boden lag. „Was wollt ihr von uns?" schluchzte sie und drehte sich zu den beiden Gestalten um, die hinter ihr in der Tür standen. Sie waren irgendwie zierlich und doch glänzte an ihren riesigen, gebogenen Schwertern Blut. Es schienen Frauen zu sein! „Wir wollen das Mädchen, das durch das Bild kam... Wie die Prophezeiung..." Sie hielten mitten im Satz inne und fuhren zu ihnen herum. Flo hatte Joeleen am Arm gepackt und wollte sie weg ziehen, zurück in das Bild, aus dem sie gefallen waren, zurück in Sicherheit und Weg von diesem Ort, der nach Stroh, Pferden und Blut roch. Doch die Kriegerinnen waren schneller neben ihnen, als der Junge reagieren konnte. Sie rissen seine Zwillingsschwester von ihm weg und beförderten ihn mit einem schmerzhaften Tritt in den Magen von dem Bild weg. „Bringt sie zu ihm!" Rief eine und ihre Stimme flirrte in der feuchten Nachtluft. „Und tötet den Jungen!" „Nein! Flo!" Joeleen strampelte, biss uns kratzte, doch die Frau lachte nur und zerrte sie aus der Tür. „Joeleen!" Er versuchte verzweifelt irgendwie zu ihr zu kommen, doch der nächste Tritt beförderte die Tür aus seinem Blickfeld. Er zitterte, Angst schnürte ihm die Kehle zu , als das das Mondlicht sich in der scharfen Klinge spiegelte, an der bald sein Blut kleben sollte. Flo musste hier weg. Das war ihm klar, aber... Joeleen... Seine Hände ballten sich zu verzweifelten Fäusten und plötzlich spürte er den zweiten Ring. Er musste ihr vom Finger gerutscht sein, als die Frau sie von ihm weg gerissen hatte. „Irgendwelche letzten Worte, kleiner?" Ihre Stimme hatte etwas raues, südliches... Flo konnte sich nicht erklären wieso. Der kleine Junge sah sie an, mit ihren großen Kinderaugen, die panisch nach einem Ausweg suchten. Er musste zu dem Bild und dorthin wanderte sein Blick. Der Blick der Kriegerin folgte seinem, doch da rannte er schon los. Das scharfe Metall zischte durch die Luft, ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen rechten Arm und raste dann durch seinen ganzen Körper. Florian schrie auf, doch er blieb nicht stehen, bis er durch das Gemälde stolperte. Plötzlich lag er wieder auf dem kalten Boden ihres Kellers. Seine linke Hand zitterte, seine rechte spürte er nicht mehr. So lag der kleine, 10jährige Junge weinend da, während der Stein um seinen rechten Arm sich rot färbte. Rot von seinem Blut. Bis er schließlich das Bewusst sein verlor.

Erschrocken fuhr er hoch und riss die Augen auf. Alles war weiß... Die Wand, das Bett, der Verband an seinem Arm ... geblendet kniff Flo die Augen zusammen. Er war in einem Krankenhaus. „Florian! Oh Gott, mein Baby, du bist wach!" Seine Mutter fiel ihm um den Hals und der Junge zuckte erschrocken zusammen. „Wie hast du das nur hinbekommen? Die Wunde an deinem Arm war riesig! Sie wird nie wieder ganz heilen! Bist du auf das Regal geklettert.." Ihre Stimme hatte den hysterischen Ton einer besorgten Mutter angenommen. Die Frau hörte gar nicht mehr auf zu reden. „Joeleen..." Sie verstummte. „Was?" „Joeleen... Was ist mit Joeleen passiert? Habt ihr sie wieder gefunden? Ist sie auch hier?" „Schatz..." Vorsichtig kniete seine Mutter sich neben das Krankenhausbett und sah ihm tief in die Augen. „Wer ist Joeleen?" Für eine Sekunde war Florian so überrascht, dass es ihm die Zunge lähmte, doch er fand seine Stimme schnell wieder. „Joeleen! Meine Schwester!" In die besorgen Augen seiner Mutter schlich sich Bestürzung. „Florian... Mein kleiner... Du hast keine Schwester... Du bist ein Einzelkind..." „Nein!" schrie er aufgebracht. Flo wollte seine Mutter packen und schütteln, bis er sie sich wieder an Joeleen erinnerte. An seine Zwillingsschwester, die 20 Minuten vor ihm geboren war und gleichzeitig seine beste Freundin gewesen war, doch als er versuchte seinen rechten Arm zu bewegen zuckte er mit einem Schmerzensschrei zusammen. Da fiel ihm etwas ein. Die Fotos! Es existierte kein Foto auf dem sie alleine waren! „Gib mir deinen Geldbeutel!" Verwirrt zog seine Mutter ihre lederne Geldbörse aus der Handtasche und reichte sie ihrem kleinen Sohn. Flo riss mir seiner linken Hand so schnell die Druckknöpfe auseinander, wie es ihm möglich war, nur um etwas zu sehen, dessen Anblick er nie vergessen würde. Auf dem kleinen Foto, das in der Geldbörse seiner Mutter war, war er alleine. Aber sie waren noch zusammen darauf gewesen, als er sie das letzte Mal in der Hand gehabt hatte, aber da war nichts. Keine Joeleen. Keine Schwester.

Make it Rain, FloidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt