21. Kapitel

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Mit einem Ruck setze der Flieger auf dem Boden auf. Ich atmete erleichtert aus. Fliegen war wirklich nicht meine Lieblingsbeschäftigung. 

Als ich nach zwölf Stunden aus meinem  Sitz aufstand, fühlten sich meine Beine ganz taub an. Ich streckte mich ein wenig und brachte so Leben in meine Knochen zurück. Sobald alles wieder einigermaßen funktionstüchtig war, zog ich mir meine hellgrüne Winterjacke über. Etwas unsicher ging ich hinter Dad den Gang entlang und trat dann hinaus ins Freie. Anders als in Miami gab es hier keinen Tunnel; wir mussten über den Flugplatz laufen. Es war eiskalt und ich war froh um meine Jacke.  Ohne sie wäre ich vermutlich schon längst zu einer Eisstatue gefroren. Auf meinen Armen bildete sich trotz der Jacke eine Gänsehaut und wenn ich ausatmete konnte ich meinen Atem sehen. Es war dunkel und so konnte ich nichts außerhalb des Flugplatzes und des Flughafens erkennen. Das einzige, was ich sehen konnte, waren tausende von Lichtern, die in der Nacht strahlten. Ich folgte meiner Familie über den Flugplatz und freute mich schon auf die Wärme des Gebäudes vor mir. So viel wärmer war es im Inneren des Flughafens jedoch nicht und ich seufzte enttäuscht. Wenigstens würde der Schock der Kälte draußen dann gleich nicht so stark sein. Warum mussten meine Eltern auch in eine so weit im Norden gelegene Stadt um Urlaub zu machen? Jeder normale Mensch würde nach Hawaii oder nach Europa. Nein, meine Familie flog natürlich nach Alaska! Ich regte mich darüber im Stillen ziemlich auf und stapfte immer weiter geradeaus. Dann bemerkte ich, dass meine Familie abgebogen war. Wohin wollten die denn jetzt? Der Ausgang war doch weiter geradeaus? Meine Mom lachte, als ich angerannt kam: "Wo willst du denn hin? Willst du die nächsten zwei Wochen nur das Outfit anziehen?" Ach ja, richtig, die Koffer. Die hatte ich irgendwie ganz vergessen. Ich wurde rot und folgte ihnen zum Gepäckband. Mein Koffer war mit seiner knallpinken Farbe ziemlich gut zu finden, aber der schwarze Koffer meines Bruders war schon schwieriger auszumachen.

Nachdem meine Eltern ein Taxi gerufen hatten und dieses uns in einem ziemlich großen Hotel abgeladen hatte, besichtigten wir unsere Zimmer. Wie schon vermutet musste ich mir ein Zimmer mit Ethan teilen. Wir hatten ein eigenes kleines Bad und das Bett war wunderbar weich. Jep, ein Bett. Es gab zwei Zimmer mit jeweils einem Doppelbett. Ethan hatte schon versucht Mom zu überreden mit mir in einem Bett zu schlafen, aber sie hatte sich nicht erweichen lassen. Nun saß er mürrisch in seinem Teil des Bettes während ich meinen Schlafanzug anzog. Er hatte schon Zähne geputzt während ich noch versucht hatte meinen Schlafanzug aus dem Koffer zu zerren -dank Scarlett-  ohne dass alle meine Klamotten auf dem Boden verteilt waren.

Als ich nach dem Zähneputzen wiederkam, lag er schon im Bett. Das Licht hatte er auch ausgeschaltet, damit ich auch ja nichts mehr erkennen konnte. Zum Glück leuchtete das Licht einer Straßenlaterne -wir waren direkt im zweiten Stock gelandet- durch das Fenster ins Zimmer. Mit ziemlich viel Gepolter und einem blauen Fleck am Knie fand ich schließlich das Bett. So weit es ging am Rand liegend dauerte es noch eine ganze Weile bis ich endlich einschlafen konnte. Das lag vermutlich hauptsächlich an meinen ganzen blauen Flecken, die mir eine gemütliche Lage dummerweise nicht möglich machten.

Am nächsten Morgen wurde ich vom Sonnenlicht geweckt. Sofort sprang ich aus dem Bett um aus dem Fenster die Stadt zu sehen. Unser Hotel lag höher als der Rest der Stadt und ich würde einen tollen Ausblick haben. Tatsächlich: Der große Fluss, der die Stadt dort umgab, wo sie nicht von Bergen umgeben war, floss in seinem dunklen Blau vor sich hin. Auf den Berggipfeln glitzerte der weiße Schnee und die Wälder waren von einem unglaublich intensivem Grün. Die Häuser standen dicht an dicht und ab und zu ragte ein Industriegebäude oder ein Wolkenkratzer deutlich nach oben. Überall fuhren Autos und Menschen liefen durch die Einkaufsstraßen. Es war einfach nur wunderbar. Mit meiner Lautstärke hatte ich Ethan geweckt und auch Mom kam jetzt mit bester Laune ins Zimmer. "Guten Morgen", trällerte sie, "Macht euch fertig fürs Frühstück. Wir haben heute noch viel vor." Genervt übernahm mein Bruder die Antwort: "Was machen wir heute denn noch? Ich dachte ich hätte wenigstens am ersten Tag meine Ruhe!" Damit war das Lächeln auch meiner Mom vom Gesicht gewischt. "Ethan Donelly. Wir sind hier weil es deiner Schwester nicht gut geht -auch wenn sie sich das nicht anmerken lässt. Dein Verhalten sorgt dafür, dass es ihr nicht gerade besser geht. Also reiß dich wenigstens dieses eine Mal zusammen." Mein Dad kam mit ernster Miene dazu und legte meiner Mutter beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. "Reg dich nicht so auf, Schatz. Er wird sich schon gut benehmen. So wie immer" Seine Stimme war ruhig, doch der Blick, den er in Ethans Richtung warf war mahnend. Dieser gab klein bei und drängelte sich vor mir ins Badezimmer. Mom und Dad waren schon fertig, also konnte ich in ihr Bad um Zeit zu sparen. Während dem Zähneputzen dachte ich an meine Freunde zu Hause, die jetzt sicher für die letzten Prüfungen und Arbeiten lernten.

Das Frühstüch schmeckte gut, doch es wurde mir dann verdorben, als Ethan "versehentlich" den gesamten Pfeffer über meinem Rührei verschüttete. Mom guckte ihn daraufhin böse an, aber er tat ganz unschuldig.

Am Nachmittag und an den Nachmittagen daruf gingen wir wandern. Die Wälder waren wunderschön und meine Eltern wollten immer an die wunderbarsten Plätze wandern. Mal besuchten wir einfach nur den Wald, dann einen Waldsee, einen Wasserfall und einmal stiegen wir den Berg sogar bis zu den Schneefeldern hoch. Mein Dad erzählte mir, dass der Schnee zehn Jahre zuvor fast komplett geschmolzen gewesen war. Doch durch die radikalen Schutzmaßnamen der Menschen und durch die plötzliche kommende Kälte war der Schnee wohl wieder gekommen. Ich fand es interessant, wie schnell die Welt sich verändern konnte.

Am vierten Tag wollten meine Eltern etwas allein unternehmen, Ethan wollte im Hotel bleiben und ich ging ins Stadtzentrum. Dort war ein Markt und ich wollte mich ein bisschen von der Kälte ablenken. Dauernd hatte ich eiskalte Hände und eine Gänsehaut und der kalte Wind war schrecklich. In Miami fand ich ihn immer angenehm, die kalten Luftströme in der Hitze, aber hier; einfach nur ätzend.

Der Markt wirkte altmodisch, genauso wie in Huntsville und ich guckte mir mit bester Laune alles an. Die Stände mit den Kleidern besonders, denn ich hielt Ausschau nach etwas, das ich Scarlett  mitbringen könnte. Ich fand leider nichts, denn sie trug die Dinge die hier verkauft wurden grundsätzlich nicht. Bei den Gewürzständen blieb ich jedes Mal stehen und sog den fremden Duft in mich auf. Bei jedem Schritt, den ich tat ein anderer Geruch. Es war einfach wundervoll.

An einer Ecke saß eine alte Frau, die in eine durchsichtige Kugel starrte und Leuten angeblich ihre Zukunft voraussagen konnte. Außerdem sagte sie jedem, der in ihrer Nähe stehen blieb, dass sie auch die Zukunft aus Handlinien lesen konnte. Ich wusste von Riley, dass das nur Quatsch war, ging aber zu ihr um nachzuschauen, ob sie eine Ombré war. In meiner zeit war das der geläufigste Job für unsereins gewesen; aber auch der, bei dem man am ehesten als Hexe verbrannt werden konnte. Sie war es nicht, also wollte ich mich schon gelangweilt wieder abwenden. Da sprach sie mich an: "Suchst du jemanden Mädchen?" Ich schüttelte zur Antwort nur den Kopf. Sie schien mir anzusehen was ich dachte, denn sie redete sofort weiter: "Nur weil ich keine richtige Hexe bin Mädchen, muss das nicht heißen, dass es sie nicht gibt. Oder glaubst du etwa, dass bei der Hexenverbrennung vor über 400 Jahren unschuldige verbrannt wurden?" Damit kannte ich mich wohl ein bisschen besser aus als sie. Diese Frau kam mir ein bisschen verrückt vor, aber sie schien dringend jemanden zum Reden zu brauchen,also setzte ich mich auf den Stuhl ihr gegenüber und blickte sie freundlich an. "Sie glauben wirklich an Hexen?" "Ja Kind. Natürlich. Vielleicht sind sie ja nicht als Hexen bekannt, aber magische Wesen gibt es bestimmt. Ich habe mal von Wesen gehört, die die Schatten behrrschen. Sie können ihnen Befehle erteilen und sie komplett von der Welt nehmen." Erschrocken blickte ich sie an. Vielleicht wusste sie nicht alles von uns, aber sie hatte schon von Ombrés gehört. Und wenn sie unseren Namen kannte, wie viele andere Menschen dann noch? Die Frau bemerkte meinen Blick und fing an zu lachen. "Du glaubst das doch nicht etwa? Ich erzähle doch nur Märchen. Die Leute bezahlen mir mehr Geld wenn ich diesen mystischen Schwachsinn von mir gebe." Erleichtert atmete ich aus. Sie sagte die Wahrheit und glaubte wirklich nicht an den ganzen Kram. Ein wenig verstört stand ich auf. Ich bezahlte der Frau ein wenig Geld, lächelte gezwungen und ging. Sie rief mir noch etwas hinterher, aber das verstand ich schon nicht mehr. Ombrés lebten anscheinend nicht mehr so sehr im Geheimen wie vor 450 Jahren.

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