38. Kapitel

160 19 0
                                    

"Was hast du denn? Warum weinst du?", Taylors Stimme war so furchtbar besorgt, dass ich unwillkürlich noch mehr verzweifelte. "Ich...ich hab da eine Seite über mein früheres Heimatdorf, Huntsville,  gefunden.  Da steht, dass es abgebrannt ist und fast alle gestorben sind. Und ich kannte sie doch fast alle." "Das ist natürlich schlimm. Aber, so hart sich das jetzt anhört, sie sind sowieso schon tot. Daran kannst du überhaupt nichts mehr ändern." "Vermutlich hast du recht. Aber trotzdem war es meine Familie.  Und meine beste Freundin." "Komm mit. Wir machen jetzt eine Tour durch Venedig. Das wird deine Laune bestimmt bessern."

Wir nahmen wieder eine Gondel und ich fand es wunderschön durch den Canal Grande zu schippern und die Häuser anzuschauen. Ab und zu sagten Taylor oder der Gondolier etwas, aber meistens hörte ich nicht zu. Der Gondolier sprach auch kein gutes Englisch, sodass Taylor für mich übersetzen musste. Die vielen wunderschönen, bunten Häuser besserten meine Laune ziemlich und als uns hier und da ein paar Menschen zuwinkten, lächelte ich jedes mal freundlich zurück. Auf dem Markusplatz war ich ziemlich überwältigt. Die riesigen Säulen, die direkt am Kanal standen waren besonders schön. Auf der einen thronte ein geflügelter Löwe, den ich gerne als Haustier gehabt hätte, wenn er denn leben würde. Die andere Figur sollte warscheinlich irgendeinen Heiligen darstellen, aber es interessierte mich nicht weiter. Taylor sah, wie fasziniert ich war, bezahlte den Gondolier und stieg mit mir gemeinsam aus. "Gefällts dir? Schöner als Miami, oder?" "Beides ist schön. Aber das hier hat was." Hand in Hand gingen wir los und ich betrachtete alles ganz genau. Zu beiden Seiten standen riesige Gebäude mit Bogengängen und verschnörkelten Verzierungen. Hunderte von Menschen standen auf dem Platz und fotografierten alles, was ihnen vor die Linse kam. Auch ich nahm mein Handy heraus und machte Fotos, besonders gut gefielen mir die Straßenlaternen. Solche wie diese hatten wir nämlich in Miami nicht. Eine hübsch verzierte Stange führte zu drei Lampen, deren Schirm leicht rosa war. In der Gesamtkulisse wirkte das einfach nur atemberaubend. Im Hintergrund des Bildes sah man die Basilika, in die Taylor unbedingt hineingehen wollte. Er war schließlich gläubig und ich wollte auch gerne mal eine so gigantische Kirche von Innen sehen. In Huntsville waren wir auch einmal im Monat zur Messe gegangen, aber diese wurde nur in einer mickrigen Kapelle abgehalten. Sobald wir diese Basilika betreten hatten riss ich den Mund auf. Es war alles so riesig. Die riesigen Kuppeldächer hatten von draußen doch gar nicht so groß ausgesehen. Taylor ging nach vorne zum Altar und ich folgte ihm wortlos. Nachdem er eine Weile gebetet hatte und ich daneben stand, drehte er sich wieder zu mir um. "Mund zu. Wir wollen doch keine Kirche vollsabbern oder?" Sofort klappte ich meinen Unterkiefer hoch. "Nee. Vermutlich nicht."

"Lynn?" "Ja?" "Meinst du nicht wir sollten dem ganzen irgendwie ein Ende setzen und zurück nach Miami gehen? Ich habe grade darüber nachgedacht. Vielleicht können wir die Iram Vindicem ja irgendwie besiegen?" "Wie denn? Aber ich stimme dir zu. Wir können uns hier wirklich nicht verstecken. Am besten wir gehen bald wieder zurück." "Aber erstmal genießen wir noch ein bisschen Venedig." Als wir draußen ankamen fragte ich ihn dann doch, wer die andere Statue war. "Das ist der heilige Theodorus." "Wer?" "Ist nicht so wichtig. Glaub mir. Der Löwe ist für die Venezianer viel wichtiger." "Gut, und wofür steht der?" Taylor lachte, "Lynn, hast du eigentlich noch nie irgendetwas über Venedig gehört? Das ist der geflügelte Löwe, das Zeichen oder Symbol oder wie auch immer du es nennen willst, des heiligen Markus. Und das hier", er machte eine allumfassende Bewegung mit den Armen, "ist der Markusplatz. Markus ist übrigens der Stadtheilige von Venedig." Jetzt klang seine Stimme als würde er mit einem Kleinkind reden und ich kniff grinsend die Augen zusammen. "Danke für die Erklärung." "Du weißt, dass das nur ein Spaß war?", glücklich legte er den Arm um mich. "Ja. Du Dummkopf."

"Wo wir eh schon hier sind, was hältst du davon, meine Familie kennenzulernen?" "Ehrlich? Gar nichts. Was wenn sie mich nicht mögen?" "Dich muss man mögen. Und außerdem wäre das nur fair. Ich bin schließlich dauernd deiner Familie ausgesetzt. Und behaupte jetzt ja nicht, dass sie mich mögen würden." "Ach, nächstes Mal erzählen wir ihnen einfach, du hättest mir das Leben gerettet. Dann vergöttern sie dich." "Haha. Komm." Er zog mich hinter sich her auf sein zu Hause zu. Wir waren durch die ganze Altstadt spaziert und schließlich irgendwie in seine Wohngegend gekommen. Als die Tür aufgerissen wurde, löste sich Taylor von mir, um eine junge Frau zu umarmen. Vermutlich seine Schwester. "Ciao. Maria." Danach sagte er irgendeinen Mist auf Italienisch und ich schaltete ab. "Hallo Evelynn. Es freut mich dich zu sehen. Ich bin Taylors Schwester Maria." Maria hatte zu Englisch gewechselt und ich lächelte sie dankbar an. Warum konnten die alle so gut Englisch und ich nur Spanisch und kein Italienisch? "Kommt rein ihr beiden. Mom hat erzählt, was so passiert ist. Ich war ziemlich sauer auf dich Taylor. Das kannst du glauben. Ich meine jetzt sehe ich dich und ich sehe sie und euch beide, aber vorher konnte ich einfach nicht glauben, was du wegen ihr gemacht hattest." Sie redete gerne und sie erinnerte mich ein wenig an Scarlett mit ihrer aufgeschlossen, redefreudigen Art. "Mamma und Papa sind im Wohnzimmer." Maria nahm meine Hand und zog mich hinter ihr her, vorbei an Taylor, dem ich nur noch einen leicht hilflosen Blick zuwerfen konnte. Er grinste mich bis über beide Ohren schadenfroh an. Warscheinlich behandelte sie ihn normalerweise so. "Oh, Hallo Evelynn, hallo Taylor. Was macht ihr hier?", seine Mutter lächelte, auch wenn sie Taylor noch nicht verziehen hatte, dass er alles einfach so hingeschmissen hatte. So eine Mutter wollte ich auch! Obwohl ich mit meiner warscheinlich zufrieden sein sollte, denn meistens war Mom doch ziemlich stressfrei. "Ich wollte euch Lynn vorstellen und dann wollten wir uns verabschieden. Wir denken, es wäre besser, wenn sie zurück nach Miami kommt. Und ich denke, dass wir vorher keine Zeit mehr haben euch zu besuchen. Kann ich grad mal das Telefon benutzen?" "Si, äh ja. Tschuldigung Evelynn. Habs vergessen. Kannst du noch was anderes außer Englisch?" Maria versuchte die Konversation am laufen zu halten. "Ähm ja, ich spreche Spanisch. Wir konnten leider kein Italienisch lernen. Ich finde die Sprache viel schöner. Aber solche Wörter wie Si verstehe ich schon." Meine letzte Bemerkung ignorierte sie. "Tja, das ist der Nachteil an Amerika. Hier kann man viel mehr Fremdsprachen lernen. Ich zum Beispiel spreche fließend Italienisch, Deutsch und natürlich Englisch." "Warum denn Deutsch? Das braucht doch eh keiner." "Oh, hier kommen ziemlich viele deutsche Touristen her und mein Freund kommt aus Deutschland."  "Ach so." Ich wurde ein bisschen rot, aber dann kam Taylor endlich wieder. "So mein Sohn", es war das erste Mal, dass Taylors Vater sich zu Wort meldete, "willst du uns nicht mal erzählen, was hier eigentlich los ist?" "Mhh, also ich hab mich in Evelynn verliebt. Dann hab ich erfahren, dass sie von einer Amateur Sekte verfolgt wird, weil sie angeblich eine Hexe sein soll. Völliger Schwachsinn. Hexen gibt es nicht. Na ja, und dann hab ich beschlossen, dass ich sie beschützen will. Weil ich sie liebe." "Okay, genug der ernsten GesprächeIch werde Evelynn jetzt mal ordentlich stylen. Sie sieht so aus, als hätte sie heute morgen keine Zeit gehabt." "Maria! Silenzio!" "Aber da wirft man doch nicht so einfach seinen Job weg. Ein Job, der dir ziemlich viel Spaß gemacht hat will ich meinen. Und bist du nicht in Gefahr, wenn die Sekte hinter euch her ist?" " Nein. Das sind ziemliche Amateure", ich sah, wie seine Augen das Gegenteil bewiesen und er hoffte, dass seine Eltern nicht verstanden, dass er die ganze Situation ziemlich runterspielte, "Ich hab das ja auch nicht einfach so gemacht. Bitte, können wir nicht über was anderes reden? Wir werden uns jetzt für eine Weile nicht mehr sehen." "Gut. Evelynn, komm mit. Und ihr unterhaltet euch von mir aus über deine Erlebnisse in Miami." Sie zog mich in ihr Zimmer, das sie anscheinend nicht mehr dauerhaft bewohnte und setzte mich vor einen Spiegel. Ich sah tatsächlich ein bisschen zerzaust aus aber nicht schlimm.

Nach einer Viertelstunde fühlte ich mich wie eine Modepuppe. Ich trug mehrere Kilo Make-Up, und ein veilchenfarbenes Kleid. "Darf ich jetzt bitte gehen?" Meine Stimme war quengelig, aber ich blieb freundlich. "Ja, klar. Aber erst mach ich noch ein Foto. Hast du irgendwen in Miami, dem du das schicken kannst? Du siehst fantastisch aus." "Ja, meine beste Freundin wird ausrasten. Du bist ihr ziemlich ähnlich." "Ich nehm das mal als Kompliment, aber dann muss sie ja ziemlich verrückt sein." Wir lachten beide. "Ist sie auch." "Na dann. Wer ist das? Ihr seht ziemlich glücklich aus." Sie hatte mein Hintergrundbild gesehen. Es zeigte Scarlett, Riley, Ethan, David und mich am Strand, wie wir Arm in Arm dastanden und lachten. Ich erklärte es ihr der Reihe nach: "Meine beste Freundin. Mein Exfreund, den ich quasi mit Taylor betrogen habe. Aber nicht lange. Er hat es leider direkt rausgefunden und ich hatte keine Zeit es ihm schonend beizubringen. Mein Bruder und sein bester Freund." "Ihr seht wirklich glücklich aus. Und dein Exfreund sieht vielleicht gut aus. Falls ich mich mal von meinem Freund trenne komm ich euch besuchen und dann musst du mich mit ihm verkuppeln. Oder mit deinem Bruder." "Riley kannst du haben. Der hat jemand besseres als mich verdient. Aber das mit meinem Bruder lass mal lieber. Ich hab so ne Vermutung, dass er schon ne Freundin hat." Ich wusste eigetlich nichts sicher, aber in der letzten Zeit war er besser gelaunt gewesen und das war doch ein Zeichen oder? "Tja, dann sehen wir uns wohl irgendwann wieder." Inzwischen waren wir wieder ins Wohnzimmer gegangen und ich merkte, wie Taylors Augen bei meinem Anblick kurz größer wurden, bevor er sich wieder im Griff hatte. "Wir sollten aufbrechen. Meinst du nicht?" "In dem Kleid? So lass ich dich ganz bestimmt nicht rausgehen. Zieh dich um!" Augenverdrehend wandte ich mich seiner Schwester zu. "Tja, ihm scheint es nicht zu gefallen." "Es gefällt mir sogar sehr gut, aber ich finde nicht, dass du sowas hier tragen musst. Es ist kalt und wir wollen doch schließlich nicht, dass dir sämtliche Typen auf der Straße hinterherpfeifen oder?" "Eifersüchtig?" Ohne eine Antwort abzuwarten ging ich zurück in Marias Zimmer um mich umzuziehen.

"Ethan? Hi, hier ist dein Schwesterherz. Ich wollte nur fragen, ob du uns morgen Abend vom Flughafen abholen kannst? Hast du Taylors Auto eigentlich abgeholt?" Ich hatte ihn per SMS darum gebeten, auch wenn ich die Idee jetzt nicht mehr so schlau fand. "Beides Ja. Ich freue mich, dass du wieder zurückkommst. Du weißt gar nicht wie große Sorgen wir uns um dich gemacht haben. Du kannst doch nicht einfach verschwinden!" "Ja ja, ich weiß. Kommt hoffentlich nicht wieder vor." "Dann bis morgen." "Ciao." Unser Flieger würde ziemlich früh morgens gehen und war jetzt schon aufgeregt. Hatte ich mir nicht irgendwann mal geschworen nie wieder zu Fliegen?

HexenflammenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt