35. Kapitel - graue Welt

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35. Kapitel - graue Welt

"Soll ich lieber den Pulli anziehen oder die Strickjacke mit dem Top?"
Kiara stand vor ihrem Spiegel und konnte sich einfach nicht entscheiden. Ich lag auf ihrem Bett und beobachtete wie sie immer wieder den Pulli ansah und dann in ihr Spiegelbild schaute, da sie das Top und die Strickjacke bereits anhatte.
"Ist doch egal, du hast eh ne Jacke drüber", erwiderte ich und sie rollte genervt mit den Augen.
"Aber es ist kalt draußen und außerdem weiß ich nicht was er noch mit mir vorhat", beklagte sie sich und griff schließlich zu einer Mütze und einem dazu passenden Schal und zog sich beide Sachen ebenfalls an.
Kiara hatte heute ein Treffen mit einem Jungen, den sie vor ein paar Wochen beim Eislaufen mit Lena kennengelernt hatte. Ich sollte natürlich mit, da er auch noch jemanden mitbrachte. Wir hatten vor auf den Weihnachtsmarkt in Köln zu gehen und obwohl ich nicht wirklich Lust auf die ganzen Menschen hatte, konnte Kiara mich doch tatsächlich noch überreden. 'Ablenkung ist immer gut', waren ihre Worte gewesen und damit war die Sache geklärt gewesen.
"Okay geht das so?", fragte sie mich wieder und lächelte mich etwas unsicher an.
Sie stand zögernd vor mir, ihre Beine steckten in einer dunkelblauen Jeans mit schwarzen Uggboots. Ihr dunkelrotes Top und ihre schwarze flauschige Strickjacke passten zur Mütze und zum Schal. Mit ihren leicht gelockten Haaren spielte sie etwas herum während sie auf meine Antwort wartete.
"Ja, du siehst definitiv gut aus"
Ein breites Lächeln tauchte in ihrem Gesicht auf und schon klebten ihre Lippen an meiner Wange.
"Du bist echt der beste Freund den man sich wünschen kann", sie kicherte und versuchte ein wenig ihre Nervosität zu verstecken.
"Können wir?", fragte ich sie und ein hektisches Nicken kam ihrerseits.
Sie sah noch einmal in den Spiegel, schnappte sich ihre WInterjacke und ihre Handtasche und ging schließlich vor mir aus dem Haus raus.

"Hast du eigentlich noch was von Simon gehört?", fragte sie mich vorsichtig, während wir zur Bushaltestelle liefen.
Ich schüttelte bloß den Kopf und vergrub meine Hände in meinen Jackentaschen.
"Du muss nicht drüber reden aber ich weiß, dass du ihn immer noch liebst"
Warum musste sie ausgerechnet jetzt mit dem Thema anfangen?
"Kiara....bitte", seufzte ich und sie hob abwehrend ihre Hände.
"Ja ist ja gut, ich mag nur nicht, dass du seit Wochen nicht mehr richtig fröhlich bist. Das ist ja noch schlimmer als damals, als ihr euch schonmal getrennt habt"
"Lass es einfach, bitte"
Diesmal schwieg sie und jeder ging seinen eigenen Gedanken nach, wöhrend wir auf den Bus warteten.
"Wie heißt noch mal der Typ?", fragte ich sie, um das Thema irgendwie abzulenken und diese unangenehme Stille zu durchbrechen.
"Moritz und wehe du bist nicht lieb zu ihm"
"Und wer kommt jetzt mit?"
"Keine Ahnung, irgendein Freund halt", achselzuckend sah sie mich an und lächelte dann leicht.
"Vielleicht ist der ja auch schwul na", sie grinste breit und zwickte mich in die Seite.
"Glaube ich nicht dran", erwiderte ich etwas grinsend und stand schließlich auf, da der Bus in dem Moment um die Ecke bog.
"Ablenkung täte dir aber auch mal gut", meinte sie und stieg hinter mir in den völlig überfüllten Bus.
"Boah wie ich diese überfüllten Busse hasse", flüsterte ich zu ihr, ehe wir uns einen Weg durch den Bus bahnten und uns irgendwo hinstellten, wo wir nicht umfielen würden.
Mein Blick glitt aus dem Fenster und ich sah mir die graue Welt an. Seitdem Simon nicht mehr an meiner Seite war, konnte ich kaum noch Farben erkennen und generell wirkte für mich alles grau und unscharf. Es war nicht mehr das gleiche, es war nicht mehr wie früher.


"Nicooo, fang mich aaaaauf", rief mir Kiara lachend zu und stieß im nächsten Moment heftig gegen mich. Ich grinste und schüttelte gleichzeitig ungläubig den Kopf. Kiara und Moritz hatten es tatsächlich geschafft mich mit auf die Eisfläche zu bekommen auf der wir nun ein wenig Schlittschuh fuhren. Moritz' Freund war noch nicht aufgetaucht und würde sich wohl verspäten. Um durch die vollen Straßen bis zur Eisbahn zu kommen würde er eh eine halbe Ewigkeit brauchen und dennoch war ich gespannt wer die andere Person war.
Kiara hatte sich schon wieder von mir gelöst und fuhr zurück zu Moritz der sie strahlend in eine Umarmung zog. Moritz war groß und blond. Er passte perfekt zu Kiara und ich konnte mir die beiden gut als Paar vorstellen und ich wusste es würde nicht mehr lange dauern bis die beiden tatsächlich zusammen waren.
Ich lehnte an der Bande der Eisfläche und sah mir die Leute an, die vor mir Schlittschuh fuhren. Kinder, Jugendliche und Erwachsene tummelten sich auf der Eisfläche und hatten dem Anschein nach großen Spaß. Mich konnten sie alle jedoch nicht wirklich anstecken denn meine Gedanken hingen die ganze Zeit nur an einer Person, die einfach nicht aus meinem Kopf rauswollte - Simon.
Im selben Moment, als ich mir Simon bildlich vorstellte, tauchte er plötzlich in meinem Blickfeld auf. Er fuhr am Rand der Band auf der gegenüberliegenden Seite entlang und grinste über das ganze Gesicht. Ein anderer Junge gesellte sich zu ihm und die beiden lachten noch mehr. Sie schienen über irgendwas zu reden, was sie total komisch fanden und winkten schließlich einem dritten Jungen zu, der schließlich zu ihnen fuhr. Mein Herz zog sich auf eine unangenehme Weise zusammen. Einerseits war ich froh, dass es ihm anscheinend gut ging und er glücklich war. Andererseits fiel es mir schwer, dass ich nicht der Grund für sein Lachen war, der Grund wieso er glücklich war.
Simon sah zu mir und das Lächeln auf seinen Lippen wurde noch breiter. Er sagte irgendwas zu den Jungs als er sich von der Bande löste und langsam zu mir fuhr. Automatisch bildete sich auch ein kleines Lächeln auf meinen Lippen bis zu dem Moment, als mich jemand feste an der Hand packte und mit sich zog.
"Kiara was soll das!", schrie ich meine beste Freundin an und war völlig überrumpelt.
"Wir treffen uns mit Moritz' Freund an dem einen Glühweinstand. Du hast doch eh keine Lust auf Schlittschuhlaufen", sagte sie und lächelte mich an. Sie hatte anscheinend gar nicht bemerkt, dass Simon gerade auf dem Weg zu mir gewesen war und ich das erste Mal nach Monaten wieder mit ihm hätte sprechen können.
Doch als ich mich zu ihm umsah, war er bereits eh verschwunden und die Enttäuschung war mir anzusehen.
"Was ist los?", fragte Kiara, da ich nur mit hängenden Schultern die ganze Zeit über neben ihr und Moritz hergelaufen war.
"Ach nichts", murmelte ich und war froh als wir an dem Stand angekommen waren und auch auf Moritz Freund stießen.
"Hey ich bin Julius", stellte er sich vor und lächelte in die Runde.
Schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass er ein stinknormaler hetero war, denn er erzählt ununterbrochen von seiner Freundin, die er ja über alles liebte. Ich hatte absolut keine Lust mir dieses Geschwafel noch länger anzuhören, als ich in die Runde fragte, wer noch etwas zu essen haben wollte.
"Ich möchte nur gebrannte Mandeln, bringst du mir welche mit?", fragte mich Kiara und ich nickte.
"Noch jemand?"
Die anderen zwei verneinten und so machte ich mich auf den Weg zu den Essensständen.
Meine Hände steckten in meinen Jackentaschen und ich starrte sehnsüchtig auf all die Pärchen, die den Weihnachtsmarkt entlang schlenderten. Selbst Schwule und Lesben zeigten hier ihre Liebe öffentlich, was nicht oft vorkam, obwohl es in Köln wirklich normal war.

An einem Stand kaufte ich die gebrannten Mandeln für Kiara und ging schließlich weiter zu einer Imbissbude. Doch soweit kam ich gar nicht, denn plötzlich stellte sich mir Simon in den Weg.
"Hey", sagte er und lächelte mich an. Ich war so perplex, dass ich gar keinen Ton rausbekam. "Alles gut bei dir?", fragte er weiter und deutete schließlich auf eine kleine Gasse.
"Wollen wir da kurz hin? Dann müssen wir hier nicht mitten im Weg rumstehen"
Ohne meine Antwort abzuwarten, zog er mich einfach mit und umarmte mich schließlich in der Gasse kurz. 
"Wie lange wir uns nicht mehr gesehen haben"
Ich nickte und zog dann meine Schultern kurz nach oben.
"Kommt vor, ich meine wir sind nicht mehr zusammen und wohnen in verschiedenen Städten"
Sein Blick wurde für eine Sekunde lang traurig, ehe er sich wieder gefasst hatte und sich mit dem Rücken gegen die Steinmauer lehnte.
"Ich habe dich letztens mit Selina gesehen, wie läuft es bei euch?"
"Ach da läuft gar nichts, wir haben uns mittlerweile auf ne Freundschaft geeinigt, weil sie sich auch in jemand anderen verliebt hat"
"Oh und wie sieht es bei dir aus?"
Er sah auf den Boden, während er mir antwortete.
"Ich habe ab und zu was mit n paar Typen am Laufen, aber nichts festes... ich mache das auch eigentlich nur um mich abzulenken"
"Wovon?", fragte ich ihn und hoffte sehnsüchtig, dass ich der Grund dafür war.
"Ach ist nicht so wichtig", sein Lächeln war zurück und mit einem kurzen Blick sah er auf die Uhr.
"Aber dir geht es gut sonst?"
"Ja, läuft alles soweit", ich zeigte ihm ein falsches Lächeln, während ich versuchte die Tränen zurückzuhalten.
"Muss jetzt los, wir sehen uns bestimmt noch mal. Ich schreibe dir mal, hab ne neue Nummer", sagte er und verschwand schließlich wieder in der Menge.
Für einen Moment sah ich ihm nach und diese Begegnung tat mehr als nur weh.
Wir hatten uns wie Bekannte verhalten. Das Funkeln und das Knistern zwischen uns war wie weggeweht, als ob es jemand abgeschaltet hätte. Wir konnten nicht mehr so belanglos wie früher reden. Wir waren nichts mehr. Weder ein Paar, noch Freunde. Diese Erkenntnis traf mich so unvorbereitet, dass mir kurz schwindelig wurde und ich mich gegen die Mauer lehnen musste.
Das Grau der Welt verstärkte sich noch mehr.

Nimon! (BoyxBoy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt