1. Türchen

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„Ey, Misces, warum versteckst du dich denn vor uns?", rief Beau mit lauter, feindseliger Stimme.

Ich schloss meine Augen, hielt den Atem an. Versuchte, mich noch weiter in den hohlen Baum zu drücken, mich zu verstecken.

„Pass auf, dass du nicht steckenbleibst!", meinte Kraii, doch es war kein gut gemeinter Ratschlag. Ich konnte seine stille Hoffnung, mir möge eben jenes widerfahren, zwischen seinen Worten heraushören.

„Vielleicht verbrennt er den Baum gleich mit seinen Laser-Augen!", mutmaßte Crow und wäre es nicht so eng in dem Baum, hätte ich an dieser Stelle genervt den Kopf geschüttelt. Ich wusste nicht warum, aber Crow glaube seit Jahren, dass meine blauen Augen irgendwelche speziellen Fähigkeiten hätten.

Hatten sie nicht. Wenn einer das wusste, dann war ich das. Besondere Fähigkeiten hatte ich mir schon oft genug gewünscht, und zwar größtenteils jedes Mal verbunden mit solchen Attacken wie diesen hier.

Beau war der Älteste von ihnen. Mit seinen 11 Wintern hätte man meinen können, er wüsste etwas Besseres mit sich und seiner Zeit anzufangen, als mich zu hänseln. Aber nein, Beau nutzte jede Gelegenheit mich daran zu erinnern, anders zu sein.

Anders als er und die Zwillinge Crow und Kraii. Anders als alle Steinraben in Lavuco.

„Warten wir jetzt, bis er wieder raus kommt?", fragte Crow. Er sprach leiser, aber ich hörte ihn natürlich trotzdem. Zugegeben, Crow war nicht der Hellste unter den Steinraben.

Sein Bruder Kraii hatte da schon mehr auf dem Kasten. Da alle Kinder zusammen unterrichtet wurden, bis sie sich für einen Beruf entschieden, wusste ich sehr gut, wie unterschiedlich die Beiden waren, obwohl sie sich äußerlich so sehr ähnelten.

„Nee, vielleicht haben wir ja Glück und er bleibt tatsächlich feststecken", meinte Beau. „Dann müssen wir sein dreckiges Gesicht nicht mehr ertragen."

Ich schluckte schwer, sagte aber nichts. Horchte auf ihre immer leiser werdenden Schritte. Erst, als ich mir ganz sicher war, dass sie abgehauen waren, atmete ich erleichtert aus und machte mich daran, aus meinem Versteck zu kriechen. Plötzlich spürte ich, wie ich mit meinem Hemd an etwas hängen blieb, doch allmählich wurde die Luft hier drin ganz schön knapp, weshalb ich mich weiter bewegte. Am Ende hörte ich ein verdächtiges Reißen; doch ehe ich darüber nachdenken konnte, vielleicht doch noch einen Schritt zurück zu gehen, wurde ich von den hellen Sonnenstrahlen des Sommertages in Empfang genommen.

Von einem Kichern wurde ich zurück in die Realität geholt. Ich bemerkte drei Mädchen aus der Schule, Gnaha, Kerí und Runa, die etwa 10 Meter von mir entfernt standen und hinter vorgehaltenen Händen über mich tuschelten. Ich hörte nicht, was sie sagten; ich sah nur, wie sie mir amüsierte Blicke zuwarfen und hörte sie lachen.

Erst dann blickte ich an mir herunter.

Und unterdrückte ein Seufzen. Als ich mich verfangen hatte, war ein Teil meines Hemds gerissen und entblößte meine nackte Brust.

Morgen würden die Zwillinge mich in der Schule damit aufziehen. Ziemlich sicher, dass Runa ihren älteren Brüdern hier von erzählen würde.

Auf einmal füllten sich meine Augen mit Tränen und ich wandte mich rasch von den Mädchen ab, damit sie sie nicht sahen. Das wäre noch viel, viel schlimmer!

Hastig verwandelte ich mich in meine Rabengestalt und flog von ihnen weg.

Normalerweise liebte ich es, mit ausgebreiteten Flügeln meine Runden über die Stadt zu drehen, aber heute flog ich direkt nach Hause. Ohen Umwege steuerte ich den Baum mit dem breitesten Stamm in Lavuco an – Meinem Zuhause.

Während ich landete, verwandelte ich mich zurück. Ich klopfte nicht an; selbstsicher öffnete ich die Tür und trat in den Raum ein, der oftmals auch als Versammlungsraum diente. Mein Vater Ashamo, ein Steinrabe, war der Bürgermeister von Lavuco und soweit ich das beurteilen konnte, auch ein ziemlich guter. Zumindest liebten ihn alle und wählten ihn schon seit Jahren immer wieder. Er schien nicht da zu sein, als ich nach Hause kam, zumindest saß nur meine Mutter auf dem Sofa.

Als sie mich sah, lächelte sie mich liebreizend an – Bis sie mein zerrissenes Hemd bemerkte. Ihr Lächeln erstarb und ernsten Schrittes kam sie auf mich zu. Sie streckte einen Arm aus, berührte zunächst das Hemd, begutachtete es mit Argusaugen. Dann fasste sie mich am Kinn und drehte mein Gesicht in alle Richtungen. Ich konnte ihr direkt in die Augen schauen; sie waren genauso blau wie meine.

Sie war auch größer als die meisten anderen Frauen in Lavuco, so wie ich größer war als die meisten Gleichaltrigen, und ihr Gefieder war dunkler, schwarzer, als das der anderen.

Sie war ein Winterrabe, aber niemand in der Stadt würde ein schlechtes Wort über sie verlieren, immerhin war sie mit Ashamo verheiratet. Leider hatte sie einen Großteil ihrer Winterraben-Gene an mich vererbt und was sie mit stolz trug, versuchte ich zu verstecken.

„Waren das wieder diese dummen Kinder?", fragte meine Mutter zischend. In Momenten wie diesen erinnerte sie mich mehr an eine Schlange.

Ich atmete geräuschvoll aus. Was sollte es bringen, mit ihr darüber zu diskutieren? Es würde nichts ändern.

„Ach Raven, es wäre so viel einfacher, wenn du mir erlauben würdest, die Eltern dieser Bälger zu kontaktieren", sagte sie dann und ließ ihre Hand sinken.

Ich zuckte bloß mit den Schultern. „Das ändert doch nichts, Mama", brummte ich verdrießlich.

„Dein Vater könnte ein Machtwort sprechen."

„Dann hänseln sie mich noch mehr!", rief ich aus und trat einen Schritt von ihr weg. „Dann bin ich nicht nur der Komische, sondern auch ein Verräter!"

„Verräter?", wiederholte meine Mutter skeptisch. „Findest du das nicht ein bisschen übertrieben?"

„Nein!" Aber mein Körper sprach eine andere Geschichte. Meine Schultern sackten zusammen, meine Augen füllten sich mit Tränen und als meine Mutter ihre Arme um mich schloss, mich an sich drückte, konnte ich sie nicht mehr zurückhalten.

„Ach mein Federlein", seufzte sie und strich dabei behutsam mit den Fingerspitzen über meinen Rücken. „Du kannst es jetzt noch nicht wissen, aber das, was dich augenscheinlich von den anderen Kindern unterscheidet, ist das, was dich am Ende besonders macht."

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