10. Türchen

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In der Mitte der Stadt gab es eine große Plattform mit Feuerstelle, ähnlich wie in Lavuco, nur dass sie hier von drei Bäumen gehalten wurde. Die großen Institutionen der Stadt waren nicht in einem Kreis um die große Plattform angelegt, sondern verteilten sich ungeordnet in der ganzen Stadt. Zu meiner größten Überraschung galt das Nest von Bürgermeisterin Iba nicht als Institution.

Dafür waren die einzeln stehenden Plattformen in einem Kreis um die große Plattform angeordnet, und in einem noch größeren Kreis fand man die 7 Wachtürme der Stadt. Innerhalb dieser Kreise befanden sich die Institutionen und die Nester der Eulen.

Vor allem an die Architektur musste ich mich gewöhnen. Die Häuser waren zwar genauso wie in Lavuco in die Baumstämme hinein gebaut und es gab mehrere Räume über- oder untereinander, aber die Brücken und Plattformen sahen einfach anders aus.

Die Schule war zwar ähnlich wie in Lavuco, so wurden zum Beispiel alle Kinder zusammen unterrichtet, und doch war sie ganz anders. Das fing schon bei den Tischen an. Unterschiedlich große Platten waren einfach über kleine Baumstümpfe gelegt und verschoben sich, wenn jemand sie versehentlich anrempelte. Alleine an meinem ersten Tag musste ich vier Mal meine Tischplatte wieder richtig schieben.

Und die Lehrerin war viel strenger mit mir, als ich es gewohnt war. Wenn ich etwas nicht wusste, strafte sie mich mit ihren Blicken, und einmal, als ich kurz einnickte, warf sie ein Kreidestück nach mir.

Crow, Kraii und Runa standen mir bei. Ihnen erging es ähnlich, allerdings schienen sie es viel besser zu verkraften.

Als ich in unserer dritten Woche einen Test wiederbekam, den ich mit einer Eichel abgeschlossen hatte, ließ ich stöhnend meinen Kopf auf meine Tischplatte fallen. Eine Eichel war das schlechteste Ergebnis, welches man in Hinhan erhalten konnte.

So etwas war mir wirklich noch nie passiert.

Crow schlug mir aufmunternd auf den Rücken. „Das ist uns allen schon passiert, mach dir nichts daraus."

Ich hob meinen Kopf und sah ihn verdrossen an. „Mir nicht. Ich war immer gut in der Schule."

Kraii lachte auf. Als ich pikiert zu ihm blickte, verschluckte er sich und fragte: „Meinst du das ernst?"

Ich nickte. „Natürlich. Ihr ward doch dabei!"

„Raven, vielleicht ist es an der Zeit, dir etwas zu erklären", meinte Crow mit Grabesstimme.

„Was?", wollte ich wissen, als Kraii mir auch schon auf die Schulter klopfte und sagte: „Du warst vor allem deswegen so gut, weil du der Sohn des Bürgermeisters warst."

Ich war wie vom Donner gerührt. Hilfesuchend blickte ich rüber zu Runa, die nur entschuldigend mit den Schultern zuckte.

Das durfte doch nicht wahr sein! „Ihr habt euch das eingebildet", brummte ich schließlich.

Die Lehrerin verabschiedete uns und ich war der Erste, der aufsprang und aus dem Raum lief.

Ich hasste die Schule.

Im Grunde genommen hasste ich alles in Hinhan.

Ich blieb vor dem Baum stehen und wartete auf die anderen, als ich von hinten angerempelt wurde. Kurzzeitig verlor ich meine Gleichgewicht, konnte mich aber noch fangen, ehe ich doch noch hinfiel. Wütend drehte ich mich um und erwartete Crow und Kraii, doch stattdessen stand hinter mir Anathél. Ein Eulenlasin. Außerdem war er einer der wenigen Jungen.

„Steh mir nicht im Weg", brummte er und wollte mit bösem Blick an mir vorbeigehen, als von hinten eine Hand auftauchte, ihn am Kragen seines Mantels packte, zurückzog und gegen die Wand drückte. Ich hörte, wie Anathél ächzte. Neugierig beugte ich mich vor, um den Übeltäter zu sehen, und war überrascht, als ich Crow entdeckte. Er drückte den Eulenlasin so fest gegen die Wand, dass dieser seine Augen aufriss.

„Was ist da drüben los?", rief die Lehrerin durchdringend.

„Fass ihn nie wieder an, verstanden?", fauchte Crow, dann ließ er Anathél los. Zur Lehrerin rief er fröhlich: „Alles gut, ich musste nur schon wieder fragen, wo Plattform F ist. Ich kenne mkich hier einfach noch nicht so gut aus!"

In der Zwischenzeit schnappte Anathél laut nach Luft, warf ihm einen letzten, angsterfüllten Blick zu und rannte dann weg.

Crow drehte sich mit einem schiefen Grinsen zu mir um und kam nach draußen, gefolgt von seinen Geschwistern.

Er wusste ganz genau, wo Plattform F war. Das war nämlich die, die zu unserem Nest führte.

Während wir nach Hause liefen, hielt ich mich zurück. Kraii erzählte irgendeinen Witz, über den Crow und Runa laut lachten, doch ich konnte mich darauf gerade nicht konzentrieren.

Immer wieder musste ich daran denken, wie Crow Anathél gepackt und an die Wand gedrückt hatte.

Meinetwegen.

Das hätte er vor noch nicht allzu langer nicht getan.

Ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte.

Als wir Plattform F erreichten, blieb Crow plötzlich stehen und sagte zu seinen Geschwistern: „Geht schon mal vor. Ich muss kurz mit Raven reden."

Ich beäugte ihn skeptisch, während Runa und Kraii über die Brücke zu unserem Nest liefen.

Als sich Crow zu mir umdrehte, musste ich unwillkürlich schlucken.

Wir waren beinahe gleich groß, was er immer als Affront gegen ihn persönlich angesehen hatte. Als könnte ich etwas dafür. Doch er war stärker, dem jahrelangen Training durch seinen Vater sei Dank. Wenn die Eulen nicht ganz dumm waren, würden sie ihn als Wächter einstellen.

Jetzt sah er mich mit seinen braunen Augen an. „Weißt du, was mich echt an dir nervt?", fragte er mit einem Lachen. Innerlich wappnete ich mich für die Beleidigungen, die garantiert kommen würden. In Hinhan wusste niemand, dass ich ein Misces war. Ein Kind mit Eltern unterschiedlicher Arten. Das könnte er ganz schnell verändern. „Du denkst so unfassbar laut!"

Überrascht blinzelte ich. „Wie – Was?"

Noch immer wartete ich auf einen fiesen Kommentar, doch er kam nicht.

Crows Lachen verebbte und zurück blieb eine ernste Miene, die so gar nicht zu dem Jungen passte, der mir schon so lange das Leben zur Hölle machte. Er schluckte schwer, dann verkündete: „Es tut mir Leid, Raven. Von ganzem Herzen. Kannst du mir verzeihen?"

Ich wusste, dass er die jahrelangen, spitzen Kommentare, die Schikanen und den Spott meinte. Er musste es nicht erläutern. Und obwohl ich wusste, dass er einen Teil meiner Seele unwiderruflich verletzt hatte, hatte ich ihm längst verziehen.

Doch statt ihm genau das zu sagen, fragte ich: „Warum hast du das eben getan?"

„Wir sind jetzt eine Familie", antwortete er, ohne länger darüber nachdenken zu müssen. „Du gehörst zu uns. Niemand rührt einen meiner Geschwister an."

Und das sagte er so selbstsicher, dass ich plötzlich etwas sehr Wichtiges über Crow lernte.

Er hatte vielleicht viele falsche Entscheidungen in seinem bisherigen Leben getroffen, aber er trug sein Herz am rechten Fleck.

Und manchmal war das alles, was zählte.

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