Es war mitten in der Nacht. Seit ein paar Wochen wurde ich öfter Nachts eingesetzt. Aus Hinhan war ich es gewöhnt, das in den dunklen Stunden am wenigsten mit Gefahr gerechnet wurde. Dies schien auf den König in Glacies nicht zuzutreffen. Nachts ließ er das Aufgebot der Wachen beinahe verdoppeln. Er hatte wohl Angst, jemand könnte hinter sein Geheimnis kommen und die Königin befreien – Was, wie ich aus sicherer Quelle wusste, definitiv nicht nachts geschehen konnte.
Es gab keinen direkten Grund, weshalb Tajo eine solche Angst hatte – Außer der Tatsache, dass er wusste, dass er etwas Falsches getan hatte.
Ich stand an meinem altbewährten Posten vor der Bibliothek, zusammen mit einem älteren Lasin aus dem Dschungel, dessen Namen ich nicht verstanden hatte. Er hatte sich zwar vorgestellt, aber dabei so unverständlich gesprochen, und seine gesamte Körpersprache ließ mich erahnen, dass ich besser nicht nachfragen sollte. Er war kein Mann vieler Worte und während wir darauf warteten, dass die Nacht vorüberzog, spürte ich eine sehr ausgeprägte Langeweile in mir aufsteigen.
Wie hielten Crow und Kraii das nur aus? Sie waren die geborenen Wächter, hatten den Großteil ihrer Tage in den Wachtürmen verbracht und nie hatte ich von ihnen gehört, dass sie sich langweilten.
Vielleicht war ich auch einfach nicht für diese Art von Beruf geschaffen.
Ich unterdrücke gerade noch rechtzeitig einen tiefen Seufzer.
Die Gänge wurden von Kerzen erleuchtet, die in Halterungen an der Wand verankert waren. Von meiner Position aus konnte ich alte Nägel in den Wänden sehen, zusammen mit schattenhaften Schlieren, die offenbarten, dass dort vor geraumer Zeit Porträts hingen. Lange konnte es noch nicht her sehen. Vermutlich hatten die Bilder die vorherigen Könige und Königinnen von Sempera gezeigt. Ob Tajo oder Winya veranlasst hatte, sie abzuhängen?
Und wie lange würde es dauern, bis der Dschungeltiger höchstpersönlich die Wand des Eispalastes zierte?
Ich versank in meinen Grübeleien. Tajo sollte kein König sein. Er trat das Andenken derer, die vor ihm waren, mit Füßen. Was für ein König tat so etwas? Die Antwort war klar: Nur einer, der nicht von ihnen lernen wollte. Und wer glaubte, es ohne ihre Erfahrungen besser zu machen, war töricht.
Ich war so versunken in meinen Gedanken, dass ich, als ein lauter Knall ertönte, für den Bruchteil einer Sekunde glaubte, in der Bibliothek war bloß ein Buch aus einem Regal gefallen.
Aber das Geräusch war viel lauter gewesen, beängstigender; und kam von der Vorderseite des Schlosses. Mein Kamerad für diese Nacht schaltete schneller als ich. Noch bevor ich überhaupt realisiert hatte, was geschehen war, war er längst losgelaufen, den Gang entlang. Ich sah noch, wie er sich vorbeugte und in einen stattlichen Tiger verwandelte, ehe er um eine Ecke verschwand.
Nur wenige Sekunden waren seit dem Knall vergangen, doch plötzlich war das Schloss erfüllt von hektischem Trubel. Aus jeden Loch schienen Wachen zu kriechen, die nach vorne liefen, um herauszufinden, wer das Schloss angriff. Keiner von ihnen stellte sich die Frage, ob es sich überhaupt um einen Angriff handelte.
Das war meine Chance!
Ich schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Dann setzte ich mich in Bewegung. Ich lief los, verwandelte mich und flog so weit oben, wie es mir in den verwobenen Trakten möglich war. Anfangs flog ich in dieselbe Richtung, in die auch die Wachen liefen. Nach vorne.
Dann, als ich sicher war, dass mich niemand beobachtete, bog ich ab und flog die nächstbeste Treppe herunter, die ich finden konnte. Ich fand die Küche, fiel mit meinem dunklen Gefieder nicht auf. Diese Nacht waren die Götter auf meiner Seite. Die nächste Treppe.
Von unten kamen die Wachen hervor geströmt. Tajo hatte den Großteil seiner Männer im unteren Teil des Schloss postiert. Der Knall hatte sie aufgeschreckt.
Und doch musste ich vorsichtig sein, musste mich im Schatten fortbewegen. Sicherlich würden nicht alle Wachen nach oben rennen. Irgendwer würde bei Königin Dasana bleiben.
Je tiefer ich kam, desto kälter wurde es. Ich spürte die eisigen Temperaturen durch mein Gefieder hindurch, doch es fühlte sich nicht schlecht an; eher so, als würde mir die Kälte neues Leben einhauchen.
Dieses Gefühl überwältigte mich; dieses Wissen, am richtigen Ort zu sein. Dort, wo ich hingehörte.
Es überwältigte mich so sehr, dass ich ganz vergaß, mich auf den Weg zu konzentrieren, und mich plötzlich in einem dunklen, feuchten Flur befand, in dem nur eine Kerze an der Wand leuchtete. Mehr nicht. Sie spendete gerade genug Licht um die Stangen aus Stahl erkennen zu können, die neben einem schmalen Gang in den Boden gelassen waren und erst in der Decke mündeten.
Das Verlies.
Ich versteckte mich hinter einer Säule, blieb aber in meiner Tiergestalt. Auf den ersten Blick war ich das einzige Lebewesen hier unten. Als Mensch wäre es mir vermutlich unmöglich gewesen, in dem fahlen Licht etwas zu erkennen.
Aber ich konnte sie hören. Das leise Atmen, das Zittern ihrer Körper, das leise Kratzen, wenn sich einer von ihnen bewegte. Je mehr sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, desto besser konnte ich die Umrisse der Gefangenen erkennen, vage Silhouetten, die in sich zusammengesunken auf den Böden ihrer Käfige saßen.
Ich wusste nicht, wer diese traurigen Gestalten waren. Keinen von ihnen konnte ich wirklich erkennen. Aber allem Anschein nach konnten sie sich nicht verwandeln, sonst würden sie sicher nicht in ihren menschlichen Körpern auf den kalten, feuchten Böden sitzen.
Ein Wimmern war zu hören. Ein so kläglicher Laut, dass sich mir die Kehle zuschnürte.
Als nächsten konnte ich sehen, wie die Gestalt im mittleren Verlies zur Seite rutschte und eine leise, aber klare und helle Stimme sagte: „Du musst durchhalten, Annie."
Eine Stimme, deren Klang mir eine Gänsehaut verabreichte.
„Du hast schon größeren Schwachsinn von dir gegeben", hörte ich eine andere weibliche Stimme verächtlich grunzen. Anschließend atmete sie geräuschvoll aus und fügte hinzu: „Tut mir Leid, Daisy."
Daisy?!
Der Name hallte in meinem Kopf wider. So hatte Dina die Königin genannt.
Ich hatte sie gefunden! Sie war tatsächlich hier, in all den Wochen war ich ihr so nahe gewesen.
Doch noch bevor ich mich über diese kleine Errungenschaft freuen konnte, hörte ich Schritte die Treppe herunter eilen. Ich wollte mich besser verstecken, davon fliegen, aber es war zu spät; als ich mich umdrehte, stand mir ein Lasin gegenüber. In der einen Hand hielt er eine Lampe, deren Licht mich blendete, sodass ich ihn nicht sofort erkannte.
„Wen haben wir denn da?", fragte er mit einer Stimme, die mich nichts Gutes erahnen ließ.
Es war König Tajo höchstpersönlich.
Wer mehr über Daisys Abenteuer erfahren möchte, kann ihre Geschichte gern in "Aufbruch nach Sempera" und "Rückkehr nach Sempera" nachlesen.
Und wie es mit Aestors Rebellen weitergeht?
Tja, das erfahrt ihr im Finale der Sempera-Trilogie "Kampf um Sempera"!
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Brüder
FantasíaRaven ist nicht nur ein Vogellasin, sondern auch ein Misces - Ein Mischlasin, was bedeutet, dass seine Eltern unterschiedlicher Arten sind. Trotz der Tatsache, dass sein Vater der Bürgermeister der Rabenstadt Lavuco ist, behandeln ihn die anderen Ki...