20. Türchen

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Die eisige Luft zischte mir um die Ohren, erinnerte mich unbarmherzig daran, dass kein Sommer ewig währen konnte, und doch fühlte sich all das hier richtig an.

Ich stand alleine auf einem kleinen Hügel, meine Stiefel versanken im Schnee. Der Rest von uns befand sich einige Kilometer hinter mir. Sobald ich gemerkt hatte, dass die Luft kühler wurde, wurde mein Körper von Adrenalin durchflutet und ich glaubte, mehr Energie zu haben als jemals zuvor. So schnell war ich noch nie geflogen.

Und dann war es plötzlich da gewesen, direkt unter mir erstreckte sich das Schneetal. Der Anblick hatte mich überwältigt und ich hatte landen müssen, sonst wäre ich vermutlich unkontrolliert abgestürzt.

Jetzt stand ich da, die Hände in meinen schwarzen, mit dunklen Federn besetzten Mantel gesteckt, und konnte es nicht glauben.

Das also war das Schneetal. In seiner Mitte lag, beinahe unscheinbar, die Stadt Glacies mit dem Eispalast in seiner Mitte. Dahinter konnte ich ein hohes Gebirge erkennen, dessen Spitzen so weit in die Höhe ragten, dass sie von weißen Wolken verschluckt wurden. Rechts von mir, ging man den kleinen Hang hinunter, kam man in einen dichten Tannenwald, dessen Anblick mein Herz schneller schlagen ließ.

Dort war meine Mutter geboren. Die Heimat der Winterraben. Ob die Stadt noch existierte? Oder hatte sich die Natur alles zurückerobert und es gab nichts mehr, was an die einstige Existenz der Winterraben erinnerte?

Nur mich gab es noch. Ich wusste nicht, wie viele der letzten Winterraben Auroras Schreckensherrschaft überlebt hatten. Nach dem Gedenkfest hatte ich keinen einzigen mehr gesehen. Unter den ungünstigsten Umständen war ich der Letzte meiner Art.

Und jetzt war ich nach Hause zurückgekehrt.

Es gab ein Haus am Rand der Stand, welches Aestor uns besorgt hatte. Überraschenderweise war es recht einfach, die Stadt zu betreten – Es gab noch keine Stadttore. Die Stadt befand sich im Aufbau, jeden Tag wurden neue Häuser angefangen zu bauen, und mir bewusst, dass König Tajo alles dafür getan hatte. Nicht mehr lange, und Glacies würde in altem Glanz erstrahlen, von dem ich nur gehört hatte.

Ich war der Erste, der das Haus betrat, aber jemand saß bereits in einem dunkelgrünen Sessel vor dem Kamin und wartete auf uns.

Aestor bedachte mich mit einem undeutsamen Blick. „Wo sind denn die anderen?", fragte er ohne den Hauch eines Vorwurfs in seiner Stimme.

„Ich habe sie abgehängt", antwortete ich und schaute mich um. Der Raum war spartanisch eingerichtet. Rechts vom Kamin gab es eine kleine Kochnische, links von ihm einen massiven Esstisch, an dessen hinterer Seite eine Bank stand, die andere war mit Stühlen ausgestattet.

Auf der anderen Seite des Raumes stand ein kleines, dunkelgrünes Sofa, über dessen lehne eine gehäkelte Decke hing. Unter einem Fenster stand ein kleines Regal, in dem ein halbes Dutzend Bücher standen. Im untersten Regalfach konnte ich mehrere Kerzen stehen sehen. Beide Teile des Raumes wurden von einer schmalen, steilen Treppe getrennt, die in das obere Stockwerk führte, wo sich vermutlich die Schlafräume befanden.

„Ich habe mir die Freiheit genommen euer kleines Reich einzurichten", sagte Aestor ohne den Hauch einer Emotion. „Betten und Waschstelle findet ihr oben. Hinter dem Haus gibt es einen Wasserhahn."

Ich nickte. Er hatte uns schon vorgewarnt, dass die semperischen Städte nicht auf demselben technischen Stand waren wie die Vogelstädte. Statt unserer elektrischen Lampen würden hier nur Kerzen Licht spenden, der Kamin Wärme. Wir würden uns daran gewöhnen.

„Ich bin froh, dass ihr euch den Rebellen angeschlossen habt."

Überrascht blickte ich zu Aestor, der noch immer mit überschlagenen Beinen in dem Sessel saß. Seine Gefühle auszusprechen war mehr, als ich von ihm gewohnt war.

Er nickte, als könnte er meine Gedanken lesen. „Ich dachte, Auroras Herrschaft war schlimm, aber wir leben nach wie vor in schwierigen Zeiten." Er seufzte. „Die geglückte Carcere-Mission hat Königin Dasana zwar einige Anhänger beschert, aber als König Tajo ohne sie nach Sempera zurückkehrte, weil sie unterwegs von einem Weltentor verschluckt wurde, hat das meiner Arbeit nicht geholfen. Viele fühlen sich von ihr betrogen, können ihr nicht mehr vertrauen. Eine Königin, die immer wieder verschwindet, ist keine gute Königin."

Er hatte uns schon vor einigen Wochen die Nachricht gesandt und das Schicksal der Königin hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Unter den Lasins herrschte viel Unmut.

Ich konnte sie verstehen, und doch war ich der erste Rabe gewesen, der sich dazu entschlossen hatte, Aestors Hilferuf zu folgen um mich den Rebellen anzuschließen. Es lag an den mysteriösen Umständen, unter denen die Königin abermals verschwunden war. Wenn es nur sie traf, dann würde ich selbst vielleicht auch an die Geschichte mit dem Weltentor glauben, aber mit ihr waren auch ihre engsten Vertraute abgetaucht, die sie auf die Carcere-Mission begleitet hatten. Und einer von ihnen war Fou, der Vater der Kinder der rothaarigen Frau, die nach Hinhan geflüchtet war. Niemand würde seine Kinder zurücklassen, oder? Ich kannte ihn zwar nicht, aber die kleine Dina erzählte sehr lebhaft von seinem Mut und seiner Stärke.

Ich durchquerte den Raum und setzte mit auf einen der Stühle. „Die Frage ist: Was hat Tajo mit Königin Daisy gemacht?"

Ein amüsiertes Grinsen huschte über Aestors Gesicht.

„Was ist?", fragte ich verwirrt.

„Ihr nennt ihren Titel, aber den König nur beim Namen."

Jetzt, wo er es ansprach, fiel es mir selbst auch auf. Ich zuckte mit den Schultern um zu signalisieren, wie egal es mir war. „Er ist nicht mein König."

„Unter dieser Prämisse ist sie auch nicht Eure Königin", entgegnete er.

Langsam nickte ich. „Stimmt. In all den Jahren hat es mich auch nie interessiert, was aus der Königsfamilie wurde. Ich bin der Sohn eines Oberhaupts – Ich bin mit einer anderen Politik aufgewachsen."

Aestor musterte mich überrascht. „Es ist das erste Mal, dass ich Euch das sagen höre", stellte er fest. „Das erste Mal, dass Ihr zu Eurer Herkunft steht."

„Warum redet Ihr so mit mir? Als wäre ich ... wichtig?" Eine Frage, die mir seit unserer ersten Begegnung auf der Seele gebrannt hatte.

Aestor sah ganz zufrieden aus, als hätte er längst mit dieser Frage gerechnet. „Es liegt an den Umständen", antwortete er mysteriös. „Ihr wisst, dass Noira der einzige Winterrabe war, der sich nach dem Massaker fortgepflanzt hat?" Ich nickte. „Unter den überlebenden Winterraben gab es einen Pakt. Niemand sollte Kinder gebären. Sie wollten keine Mischlasins in die Welt setzen, nur um ihre Art zu erhalten. Lieber wollten sie aussterben. Noira hat diesen Pakt zwar mit ihrem Blut unterschrieben, ihn aber dennoch – ganz offensichtlich – gebrochen. Eure Mutter war mutig genug, eine Jahrhunderte alte Tradition der Reinheit zu durchbrechen, sogar einen Pakt zu missachten – Nur, damit Ihr leben könnt. Außerdem habe ich Euch erlebt, Raven. Ihr wisst es vielleicht noch nicht, aber Ihr seid Eurem Vater Ashamo sehr ähnlich. Wie er seid Ihr ein guter Anführer."

Ich grunzte verständnislos und schüttelte ungläubig meinen Kopf. „Ich habe den Unterricht meines Vaters nur ein paar Jahre genossen. In Hinhan war ich wie jeder andere auch. Jadlyn wird eines Tages den Platz ihrer Mutter einnehmen."

„Iba glaubt an jemand anderen."

Doch als ich nachfragen wollte, klopfte es plötzlich an die Tür, allerdings wurde die Klinke bereits heruntergedrückt.

„Deswegen", sagte Aestor mit Blick zur Tür, die just in diesem Moment aufschwang. Vier Gestalten stolperten herein – Cerva vorweg, Runa hinter ihr, dann Kraii und zum Schluss Crow, der die Tür hinter sich gewissenhaft schloss.

Im ersten Moment wusste ich nicht, was Aestor zuletzt meinte.

Aber dann, als sich die Geschwister nebeneinanderstellten und aufmerksam zu mir blickten, als warteten sie auf die nächsten Anweisungen, dämmerte es mir.

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