8. Türchen

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Ich musste eingenickt sein, zumindest schreckte ich auf, als ich geschwächt auf die Knie sank.

Crow zog mich sogleich an der Schulter hoch und Kraii stützte mich von der anderen Seite, bis ich wieder Halt gefunden hatte.

Etwas hatte sich verändert. Die Sonne war aufgegangen und ließ den Neuschnee funkeln.

„Es hat aufgehört zu schneien!", stellte ich fest, trat aus dem wärmenden Kreis heraus und lief unter unserem Versteck hervor.

Crow und Kraii folgten mir, blieben links und rechts von mir stehen, als ich innehielt und mich umsah.

In der Vergangenheit war ich nur sehr selten am Boden gewesen. Dieser Teil von Sempera gehörte den anderen Lasins; denen, die nicht fliegen konnten. Sie würden uns in ihrem Bereich nicht lange dulden, das wusste ich. Mein Vater hatte mir genug erklärt. Wenn wir überleben wollten, mussten wir so bald wie möglich eine andere Vogelstadt finden.

Ein erschreckender Gedanke kam mir. Was, wenn Lavuco nicht die einzige Vogelstadt war, die von Aurora vernichtet worden war?

Diesen Gedanken schob ich allerdings schnell beiseite. Das brachte uns nicht weiter. Also blickte ich um mich, doch ich kannte diesen Teil des Waldes nicht. Ich konnte auch keine Stadt der Bodenlasins zwischen den Bäumen ausmachen.

Ich war unsere Stadt hoch oben gewöhnt, die Sichtweise von hier unten war noch fremd für mich. Und auch die Veränderung unserer Körper war verwirrend. Hier herrschte nicht die Magie, die unsere Körper kleiner machte.

Nun kam auch Rejken mit ihren Töchtern hinter uns her. „Lasst uns Richtung Norden gehen", schlug sie vor.

Der Norden gehörte den Tigern, zumindest der Teil des Dschungels bis zum Schneetal. Es war etwa die Hälfte des Landes. Ich wusste noch, dass mein Vater gerätselt hatte, wie lange die Dschungeltiger ihren Sektor noch gegen Aurora verteidigen könnten.

In ihrem Sektor waren wir zwar vor den anderen Bodenlasins nicht sicher, aber vor Auroras schwarze Gefährten, und das war ein großer Vorteil.

Gemeinsam setzten wir uns in Bewegung, hielten uns versteckt im Wald. Rejken führte uns an.

Die Bäume standen friedlich da und ihre Äste wehten im leichten Wind. Nichts ließ an die grausame letzte Nacht erinnern, obgleich ich noch immer die Flammen an meinem Rücken spüren konnte.

Ob ich die Erinnerung jemals verlor?

Nein, das würde ich nie. Ich wusste vielleicht nicht viel, aber zumindest das: Es gab Dinge, die man niemals vergaß.

Irgendwann fing Cerva zu weinen an. „Hunger!", heulte sie, und Rejken steckte ihr ihren Zeigefinger in den Mund, an dem das Mädchen sogleich nuckelte.

Stunde um Stunde liefen wir weiter, unsere Zehen wurden immer blauer und nicht einmal die Sonne schaffte es noch, uns etwas zu wärmen. Die Kälte kroch unsere Körper hoch und ich wusste, dass wir so gut wie keine Überlebenschancen hatten.

Diese Erkenntnis brach über mich herein wie ein Wasserfall. Ich hielt inne, schlang meine Arme um meinen zitternden Körper, und spielte mit dem Gedanken, mich zu verwandeln. Ich konnte fliegen. Und Rejken bedeutete mir nichts, genauso wenig wie ihre Kinder. Bei allen Göttern, ihre Kinder hassten mich. Ich konnte mich noch sehr gut an die Beleidigungen erinnern, die Crow und Kraii mir tagtäglich an den Kopf geworfen hatten.

Und Beau.

Schlagartig wurde mir klar, das Beau mich nie wieder beleidigen konnte.

Aber diese Tatsache verschaffte mir keine Befriedigung. Ich hätte hundert Beleidigungen von ihm hören wollen, wenn das bedeuten würde, die letzte Nacht wäre niemals geschehen.

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