16. Türchen

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So plötzlich wie Prinzessin Dasana aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder. Es war die größte Nachricht in Sempera. Kurz nach ihrer Krönung und der offiziellen Vermählung mit Prinz Tajo, der eigentlich kein Prinz war, flog sie durch ein Weltentor zurück in die Welt, aus der sie gekommen war.

An dem Tag nach ihrem Verschwinden herrschte selbst in Hinhan eine merkwürdige Stimmung. Die sonst sehr geschwätzigen Eulen sprachen kaum ein Wort miteinander, nicht einmal das Lachen der Kinder war zu hören, als ich am Nachmittag Runa auf einer Bank sitzend bei der Feuerstelle fand.

Ich ging zu ihr, nahm neben ihr Platz und wartete einen Moment. Als sie nichts sagte und weiter vor sich hin starrte, brach ich das Schweigen. „Du siehst aus, als wäre jemand gestorben."

„Weißt du, was man über sie sagt?", entgegnete sie und warf mir einen schnellen, verzweifelten Blick zu. „Man sagt, sie ist in der Lage, Sempera zu vereinen! Sie zog mit dem wohl buntesten Rudel in der Geschichte durchs Land und es war ihr egal, was die Leute über sie sagen. Weißt du, was sie getan hat?" Sie gab mir keine Zeit zu antworten. „Das Dachsmädchen, deren Familie von Wölfen kaltblütig ermordet wurde, hat sie zur Lady von Glacies ernennt und ihr ein ewiges Bleiberecht im Eispalast eingeräumt!"

Ihre Stimme überschlug sich beinahe vor Kummer, den ich nicht nachvollziehen konnte.

Die Vogellasins hatten noch nie viel mit dem Königspaar von Sempera zu tun. Sicher, wir mussten uns an ihre Regeln halten, aber im Großen und Ganzen waren die Vogelstädte abgeschottet vom restlichen Geschehen. Erst Aurora hatte die unsichtbaren Grenzen überschritten und uns angegriffen, versucht, uns systematisch auszurotten, so wie die Lasins am Boden.

Mir war durchaus bewusst, dass das Auftauchen von Prinzessin – Nein, Königin – Dasana etwas Großes für die Lasins war, vor allem vor dem Hintergrund der bewahrheiteten Prophezeiung. Nachdem sie sich selbst gefunden und die ersehnte Rettung brachte, waren die weißen Tiger tatsächlich nach Sempera zurückgekehrt. Niemand wusste so richtig, woher sie kamen oder wo sie sich die letzten Jahre über aufgehalten hatten. Die weißen Tiger wussten es selbst nicht. Es gab keine natürliche, rationale Erklärung dafür, aber sie waren wieder da, und das war alles, was zählte.

Zumindest für den Großteil Semperas.

Die Vogellasins hatten nicht viel mit den weißen Tigern zu tun.

Ich verstand nicht, warum Runa unter dem neuartigen Verschwinden der Königin so litt. Es war ja nicht so, als hätte Königin Dasana schon sonderlich viel für das Land getan. Sicher, sie hat Aurora gestürzt und so etwas wie Frieden gebracht, aber es gab noch vieles, was sie aufarbeiten musste.

Runas Reaktion war übertrieben.

Doch da erinnerte ich mich an ihre glänzenden, großen Augen, als sie zum ersten Mal die Geschichte vom prophezeiten Retter gehört hatte. An ihre Hoffnungen, die sie in diese Geschichte gelegt hatte.

Sie hatte schon an die Königin geglaubt, lange bevor diese gewusst hatte, wer sie selbst überhaupt war.

Plötzlich verstand ich, was das wahre Problem war. Für Runa war Königin Dasana eine Heldin, zu der sie all die Jahre aufgesehen hatte; seit sie wusste, dass der Retter eine junge Frau war, wie sie, vielleicht sogar noch mehr.

Ihr Verschwinden fühlte sich für sie vermutlich tatsächlich so an, als wäre jemand gestorben, der ihr nahestand.

Ich rutschte näher an sie heran, legte meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie sanft an mich. „Vielleicht kommt sie wieder."

Doch Runa schüttelte ihren Kopf. „Es hat sehr viele Jahre gedauert, ehe sie nach Sempera zurückkehrte. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder ein Weltentor findet, bevor es zu spät ist?"

Über ihren letzten Satz dachte ich noch lange nach, selbst einige Tage später noch.

Bevor es zu spät ist.

Wer würde regieren, jetzt, wo Königin Dasana verschwunden war?

König Tajo.

Bei diesem Gedanken sträubten sich jedes Mal meine Nackenhaare und die Erinnerung an die Dschungeltiger in der Nähe der brennenden Stadt schob sich vor mein inneres Auge.

In all den Jahren, in denen Aurora an der Macht gewesen war, hatte sie gegen die Dschungeltiger gekämpft. Sie hatte das Land in Sektoren unterteilt, Familien entzweit, und der Teil der Tiger war immer kleiner geworden, aber sie hatten sich stets gegen die schwarzen Gefährten behaupten können.

Wie konnte es sein, dass eine so mächtige Hexe so viel Unheil verbreiten konnte, die Dschungeltiger aber überraschend lange verschont geblieben waren?

Vielleicht hatte Aestor doch Recht und es war an der Zeit, dass sich die Vogellasins einmischten.

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