6. Türchen

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Ich verstand meine Mutter nicht immer. Die meiste Zeit lächelte sie und wirkte zufrieden, aber dann gab es seltene Momente, die nie länger als einen Augenaufschlag andauerten, in denen sie so traurig aussah, dass ich mir sicher war, sie würde von ihrer Trauer zerfressen. Darüber dachte ich nach, als ich am Abend einschlief. Ich dachte an die Traurigkeit meiner Mutter, und daran, dass mein Vater, der beeindruckende Ashamo, sie ehrlich liebte. Manchmal glaubte ich sogar, er würde sie mehr vergöttern als die 13 Götter, aber das sagte ich natürlich nicht; niemand durfte die 13 Götter beleidigen.


Als ich aus meinem Schlaf hochschreckte, hatte ich zunächst das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Ich rieb mir die müden Augen und ließ mich wieder in meine mit Daunen gefüllten Kissen fallen, als ich den Geruch wahrnahm.

Es roch nach Lagerfeuer, aber auch nach verbranntem Fleisch.

Das war merkwürdig. Ich war mir ziemlich sicher, nicht das Frühstück verpasst zu haben. Mein Vater war sehr streng was Pünktlichkeit betraf. Bei seinem Sohn duldete er keinerlei Verspätungen.

Dann nahm ich die Schreie wahr.

Sie wurden durch das dicke Holz unseres Nestes gedämpft, aber ich konnte sie hören.

Ich sprang aus meinem Bett. Es gab zwar keine Fenster, aber die Kombination aus Rauch und Geschrei kam mir sehr schlecht vor.

Plötzlich kam meine Mutter die Treppe hochgerannt.

„Raven!", schrie sie und streckte ihre Arme nach mir aus, zog mich hastig an sich. Ihr Körper war ganz warm und ihr Nachthemd stank nach Rauch.

Jetzt bemerkte ich auch die Rauchschwaden, die aus dem Zimmer unter uns nach oben drangen.

„Mutter!", schrie ich auf. „Unser Nest brennt!"

Doch meine Mutter sagte nichts. Stattdessen zerrte sie mich zu meiner Waschkommode, nahm die Schale mit dem dreckigen Wasser von gestern und goss den Inhalt über mich.

Ich kreischte wild. Das Wasser war kalt und mein Hemd klebte unangenehm an meinem Körper.

Doch auch das interessierte meine Mutter nicht. Sie nahm mich auf den Arm und eilte zur Treppe.

„Atme tief ein!", befahl sie mir. „Und erst wieder aus, wenn ich es dir sage!"

Sie klang so ernst und verzweifelt, dass ich tat, was sie von mir verlangte. Ich holte tief Luft und hielt den Atem an.

Dann drückte sie mich eng an sich und hastete die Treppe herunter.

Ich hielt zwar die Luft an, aber meine Augen waren weit geöffnet.

Der Raum unter meinem, das Zimmer meiner Eltern, brannte. Sogar das Bett stand in Flammen. Ich glaubte, die Umrisse eines Körpers darin zu erkennen, doch noch ehe ich genauer hinsehen konnte, war meine Mutter schon die nächsten Treppen heruntergelaufen.

Hier war es noch schlimmer. Unser ganzes Wohnzimmer brannte lichterloh. Ich spürte die Hitze an meinem Rücken, im Nacken; hörte meine Mutter keuchen, während sie durch den Raum rannte, die Tür aufbrach und in die schützende Nacht lief.

Doch nein, ich hatte mich getäuscht.

Die Nacht beschützte uns nicht; sie stand in Flammen.

Ganz Lavuco brannte. Jede Brücke, jedes Nest, jede Plattform.

Es gab kein Entrinnen.

Meine Mutter stieß einen leisen Schrei aus. Ihr Blick huschte nach oben, ich tat es ihr gleich, doch auch die Baumkronen über uns hatten Feuer gefangen.

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