7. Türchen

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Ich hockte neben meiner Mutter, die Stirn in ihre Armbeuge gedrückt. Weinen tat ich schon lange nicht mehr. Noch war ihr Körper warm; noch wollte ich glauben, sie wäre nur eingeschlafen.

„Raven", hörte ich Rejken leise flüstern. „Es hat angefangen zu schneien."

Überrascht schaute ich auf und stellte fest, dass sie Recht hatte. Dicke, weiße Flocken fielen vom Himmel herab, vermischt mit der Asche meines Zuhauses.

Mir fiel auf, dass die Schreie verstummt waren. Ich schaute hoch und bemerkte, dass die Flammen kleiner geworden waren. Die Letzten reckten ihre gefährlichen Arme in die Höhe, aber der starke Neuschnee würde ihnen bald den Garaus machen.

Ruckartig sprang ich auf die Beine. „Wir müssen hoch und nach Überlebenden suchen!"

Das hätte mein Vater getan, also hielt ich es auch für eine gute Idee.

Ich wollte zum Eingang laufen, der Lavuco mit dem Boden verband; einer schmalen Treppe, die in dem Inneren eines Baumes eingelassen war, doch Rejken hielt mich am Arm zurück. Sie wartete, bis ich sie ansah, ehe sie langsam sagte: „Jeder, der sich retten konnte, ist hier unten."

Schnell blickte ich um mich, konnte aber neben ihr und ihren verängstigten Kindern niemanden sehen. „Nein", erwiderte ich. „Nein, mein Vater muss da noch oben sein."

Vor meinem inneren Auge sah ich plötzlich das brennende Bett meiner Eltern und den Umriss eines Körpers darin.

Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. „Nein", murmelte ich, mehr zu mir selbst, als zu irgendwem sonst. „Nein, das kann nicht sein. Er muss überlebt haben. Er ist doch der Bürgermeister!"

Meine Sicht verschwamm, bis ich blinzelte und die Tränen heraus kullerten.

Rejken schluckte schwer. Sie hob ihre freie Hand und wischte mir die Tränen fort. „Es gibt jetzt nur noch uns, Raven."

Die Asche fiel mit dem Schnee nach unten. Ich blickte zu meiner Mutter, die tot auf dem Boden lag; ihre verbrannte Haut immer mehr von den Flocken bedeckt.

Dann schaute ich nach oben, nach Lavuco, und stellte mir vor, dass mein Vater nicht mehr als Asche war. Vielleicht war es seine Asche die sich gerade auf meine Mutter legte und schon bald ihren Körper vor dem Rest der Welt verbarg.

Rejken stand auf. Mit einer Handbewegung winkte sie ihre Kinder näher zu sich heran. Ich achtete darauf, zwischen ihnen und mir einen großen Abstand zu haben. „Wir sind hier nicht sicher", verkündete sie bedrückend. „Ich glaube zwar nicht, dass die Brandstifter noch in der Nähe sind – sonst hätten sie und schon längst getötet. Aber hier unten können wir niemandem trauen."

„Warum fliegen wir dann nicht?", fragte ich.

Ihr Blich fiel auf ihr jüngstes Kind. „Cerva ist noch nicht soweit", sagte sie bedauernd. „Sie kann noch nicht fliegen."

Ich musterte das Bündel in Crows Armen und überlegte, es ihm aus den Armen zu reißen und dem Mädchen den Hals umzudrehen.

Dann kamen mir die Worte meiner Mutter ins den Sinn. Du hast ein reines Herz.

Vielleicht hatte sie mich gar nicht gekannt.

Nein, das stimmte nicht. Niemand kannte mich besser als meine Mutter. Wenn sie glaubte, ich hätte ein reines Herz, dann nur, weil sie etwas in mir gesehen hatte, was mir noch verborgen blieb.

„Wir müssen uns zu Fuß fortbewegen", fuhr Rejken fort. „Aber zunächst ist es das Wichtigste, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Keiner von uns ist auf die kalten Temperaturen vorbereitet."

Sie hatte Recht. Jeder von uns trug noch sein Nachthemd. Meines war an manchen Stellens sogar noch nass vom Wasser.

Der dicht fallende Schnee tat sein übriges.

„Kommt", sagte Rejken, nahm Cerva wieder in ihre Arme und setzte sich in Bewegung. Ihre Kinder folgten ihr augenblicklich.

Ich nicht. Ein letztes Mal hielt ich inne, schaute zu meiner Mutter herunter. Nie wieder würde sie mich in den Arm nehmen, mir über den Rücken streichen, mich „Mein Federkind" nennen. Ich war alleine.

Plötzlich spürte ich, wie sich eine Hand um meine schloss. Überrascht blickte ich zur Seite und entdeckte Runa, die mich mit ihren großen, braunen Augen ansah.

Sie sagte nichts, aber ich wusste, was sie wollte. Also nickte ich und ließ mich von ihr hinter den anderen herziehen; fort von meiner Mutter, von meiner Heimat und von allem, was ich kannte.

Nicht weit von Lavuco entfernt, fanden wir einen Baum, der so schräg gewachsen war, dass seine kahlen Äste ein Zelt am Boden bildeten. Es gab nicht viel Platz, aber genug für uns. Die Familie stellte sich ganz eng zusammen, während ich etwas abseits stand und nach draußen starrte. Ich beobachtete den Schnee, der immer dichter wurde. Die Äste über uns waren zwar kahl und hin und wieder stahl sich etwas Schnee hindurch, aber sie waren auch so dicht, dass das meiste zwischen ihnen hängen blieb und eine Art Decke bildete. Ein Dach aus Schnee. Wir würden hier nicht ewig bleiben können, aber zumindest lange genug, bis der Schnee nicht mehr fiel.

„Raven", sagte Rejken auf einmal. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Crow und Kraii auseinanderrückten und in ihre Mitte nickten.

„Du holst dir da noch den Tod", fügte Rejken hinzu und versuchte, liebevoll zu lächeln.

Sie schaffte das nicht so gut wie meine Mutter, aber mir kam der Gedanke, dass ihre Kinder das umgekehrt vielleicht auch dachten.

Noch bevor ich wusste, was ich wollte, setzte ich mich schon in Bewegung und stellte mich zwischen die Zwillinge. Sie rückten ganz eng an mich heran und ich war überrascht von der Wärme, die so entstand. Nur durch uns und unsere Körper und weil wir gemeinsam überleben wollten.

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