22. Türchen

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In den ersten Tagen nach unserer Ankunft in Glacies stellte mich der Eispalast auf eine harte Zerreißprobe. Die Gänge und Räumlichkeiten waren teilweise so verwinkelt angelegt, dass ich entweder ständig an Orten landete, wo ich nicht hinwollte, oder mehrfach an den selben Räumen vorbeilief, weil ich augenscheinlich im Kreis lief.

Tajos Wort wurde erhört. Crow, Kraii und ich wurden für einfache Wachdienste eingeteilt, wie zum Beispiel als zweite Wache vor irgendwelchen Räumen abgestellt zu werden, die eigentlich gar nicht wichtig waren. Die Bibliothek zum Beispiel. Ich musste mehrere Tage hintereinander zusammen mit einem Dschungeltiger namens Tanais die Bibliothek bewachen, die hin und wieder nur von einer jungen Frau mit aschblondem Haar besucht wurde, deren Anblick mich jedes Mal frösteln ließ.

Ihr Name war Winya, hatte mir Tanais offenherzig erzählt, sobald sie wieder fort war und wir noch immer dastanden und die Bibliothek bewachten. Sie war die Cousine der Königin.

Eines Tages, ich stand wieder mit Tanais vor der Bibliothek und wartete darauf, dass Winya wieder verschwand, sagte ich zu ihm, sobald sie außer Hörweite war: „Jedes Mal, wenn ich sie sehe, bekomme ich eine Gänsehaut."

Meine Stimme war ein leises Flüstern. Selbst er musste Schwierigkeiten haben, mich zu verstehen, und das obwohl er nur zwei Meter weg stand.

Nachdem er einen Moment über meine Worte nachgedacht hatte, nickte er und gab leise zu: „Manchmal träume ich nachts von ihr. Keine guten Träume, wenn du verstehst, was ich meine."

Ich verstand ihn nur zu gut. Winya strahlte etwas aus, vor dem selbst ich mich fürchtete.Von Cerva wusste ich, dass sie und Runa jeden Tag versuchten, ihr aus dem Weg zu gehen, und sogar der breitschultrige Crow bekam in ihrer Gegenwart ein mulmiges Gefühl.

Ich warf meinem Kameraden einen Blick zu der ihm signalisierte, dass ich ihn nachvollziehen konnte.

Erleichtert atmete er aus. Ein schlechtes Wort über Winya zu verlieren galt hier genauso schwer wie eine direkte Beleidigung des Königs, und das obwohl sie abgesehen von ihrer Verwandtschaft zu Königin Dasana nichts mit der Königsfamilie zu tun hatte. Soweit ich wusste war sie nicht einmal über die väterliche, also königliche Seite mit der Königin verwandt.

„Mein Frau ist ihr einmal auf dem Markt begegnet", erzählte Tanais. Bevor er weitersprach, vergewisserte er sich, dass nur ich ihn hören konnte. Aus uns befand sich niemand in der Nähe. „Lady Winya kann Magie wirken und versteckt es nicht einmal. Meine Frau sagt, dass alle vor ihr Angst hatten, weil sie einen Feuerball in ihrer Hand hielt. Mitten auf dem Marktplatz! Da sind stets hunderte Lasins, sie hätte ernsthaft jemanden verletzen können! Meine Frau hat sie gebeten, es sein zu lassen."

Er verstummte plötzlich.

Neugierig sah ich ihn an. Sein Gesicht war plötzlich verkniffen, sein Blick traurig auf den Boden gerichtet. „Was ist passiert?", fragte ich behutsam.

Er atmete tief ein und aus. „Lady Winya ist ihrem Wunsch nachgekommen, hat den Feuerball aber lachend auf meine Frau geworfen. Ihr halbes Gesicht ist seitdem vernarbt."

Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war grausamer, als ich erwartet hatte.

„Jeden Abend küsse ich ihre Narben und versichere ihr, dass sie wunderschön ist, aber ... Sie glaubt mir nicht." Er seufzte tief.

Ich wünschte, ich hätte etwas Aufbauendes sagen können, aber mir fielen nicht die richtigen Worte ein. Was sagte man in solchen Augenblicken? Nichts kam mir richtig vor.

Tanais war einer der Guten. Ein großer Teil von mir hatte angenommen, dass alle Dschungeltiger schlecht waren, weil sie für Tajo arbeiteten. Erst, als ich meinen Kameraden kennenlernte stellte ich fest, dass es weitaus mehr Grautöne gab, als ich bisher angenommen hatte. Nichts war in Schwarz oder Weiß teilbar.

Wie hatte Aestor es so schön ausgedrückt? Es war nicht immer so, wie es schien.

Tanais war ein paar Jahre älter als ich und hatte seine Frau geheiratet, noch bevor der prophezeite Retter Aurora in die Flucht geschlagen hatte. Er liebte sie nicht nur, er vergötterte sie regelrecht; jedes Mal, wenn er von ihr sprach, glänzten seine Augen, als wäre sie sein größter Besitz. Und dabei gab er mir stets zu verstehen, dass er sie nicht besaß; man konnte ein anderes Lebewesen nicht besitzen. „Eine Frau muss freiwillig bei ihrem Partner bleiben, und es lag an dem Mann, alles dafür zu tun, dass sie ihn nicht verließ", hatte er mir einmal gesagt.

„Wurde Lady Winya denn ihres Vergehens wegen bestraft?", fragte ich behutsam, obgleich ich mir die Antwort bereits denken konnte.

Wie erwartet schüttelte Tanais den Kopf. „König Tajo lässt sie gewähren, egal, was sie tut. Einmal hätte sie einem Kind beinahe ein Auge ausgestochen, und wer wurde am Ende angeprangert? Die Mutter des Kindes."

„Aber warum lässt der König das zu?", fragte ich rhetorisch. „Seine Aufgabe ist es doch, das Volk zu beschützen, bis Königin Dasana zurückkehrt."

Als ich das sagte, konnte ich eine Art Funken in Tanais Augen sehen. Schnell schaute er weg und hustete, um davon abzulenken.

„Was war das?", fragte ich, meine Stimme hatte ihren sanftmütigen Ton verloren. „Versuche gar nicht erst, es zu leugnen. Ich habe es genau gesehen. Mich kannst du nicht täuschen."

Ich wandte mich ihm zu, trat einen Schritt in seine Richtung. Noch immer weigerte er sich, mich nicht anzusehen.

„Tanais", sagte ich leise, als würde ich zu einem Freund sprechen – ruhig, aber eindringlich. „Was deiner Frau angetan wurde, ist ein schweres Vergehen. Und dass der König dies nicht geahndet hat, macht es nur schlimmer. Was willst du mir gerade nicht sagen?"

Ich sah, dass Tanais seine Hände zu Fäusten geballt hatte und zitterte. Was auch immer es war, es löste körperliche Schmerzen aus.

„Du kannst mir vertrauen", fügte ich hinzu. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Wir waren noch immer allein.

Endlich schaute er auf, sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. „Wieso sollte ich das tun?", fragte er mit heiserer Stimme. „Ich kenne dich doch erst seit ein paar Wochen. Und wer das Wort gegen den König erhebt, begeht Hochverrat."

„Und genau so sollte es nicht sein", sagte ich. „Ein guter König sollte seinem Volk zuhören, egal ob ihm das, was es zu sagen hat, unter Umständen nicht gefallen könnte."

Einen Moment lang starrte Tanais mich an, als wüsste er nicht, wie er meine Worte verstehen sollte. Dann entspannte er sich auf einmal sichtlich und fragte völlig ohne Zusammenhang: „Weißt du, wo sich das Verlies befindet?"

Völlig verwirrt über diese Wendung der Unterhaltung schüttelte ich den Kopf.

„Ganz unten", antwortete Tanais. „Das Schloss wurde sehr tief liegend gebaut, vielleicht sind in all den Jahrzehnten auch einfach so viele Schneeschichten dazugekommen. Das Verlies befindet sich soweit unten, dass man sehr viele Treppen herunterlaufen muss."

„Es muss sehr kalt dort sein", meinte ich. Noch konnte ich nicht verstehen, worauf er hinauswollte.

„Dorthin bringt König Tajo jeden, der in seinen Augen Hochverrat begangen hat", erzählte er weiter. Aus seinem klang es beinahe wie eine Nebensächlichkeit. Eine lustige Anekdote, die man sich beim gemeinsamen Abendessen erzählte.

Dann wurde sein Blick allerdings suchend, er blickte mehrfach hin und her, als wollte er sich doppelt und dreifach absichern.

Dann kam er so nah in meine Richtung, wie es ihm als Wache erlaubt war, ohne dass es auffiel, und sagte so leise, dass ich ihn kaum verstand: „Er hat Königin Dasana des Hochverrats bezichtigt."

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