„Was fressen Winterraben?", fragte Beau rhetorisch.
Er saß umgeben von seinen Freunden auf seinem Tisch in der Schule und warf mir einen gehässigen Blick zu. So versicherte er sich, dass ich ihm zuhörte.
„Schnee?", mutmaßte Gnaha, während sich Kerí weit zu Beau rüberbeugte und säuselte: „Komm schon, sag es uns!"
Beau grinste schief. „Gar nichts, sie sind tot!"
Die Gruppe der anderen Kinder lachte laut auf. Crow schlug seinem Zwillingsbruder auf den Rücken, so sehr lachte er.
Hoffentlich verschluckt er sich an seiner eigenen Spucke, dachte ich und hatte sofort ein schlechtes Gewissen.
Man wünschte niemandem den Tod.
Ich sah, wie Runa sich zu mir umdrehte und mir einen merkwürdigen Blick zuwarf. Sie sah beinahe so aus, als täte es ihr Leid.
Runa war wie ich 8 Sommer alt. Ich wusste, dass sie noch eine jüngere Schwester hatte, und dass meine Mutter oft den Kopf schüttelte, wenn sie die ganze Familie zusammen sah. Vier Kinder waren selbst für die Steinraben viel.
Resigniert seufzte ich. Die Gruppe lachte noch immer, während ich ganz alleine an meinem Tisch saß und darauf hoffte, Frau Quazimalda würde endlich auftauchen. Ich starrte auf die Holzplatte vor mir. Hier hatten schon viele Kinder gesessen, ich konnte geritzte Kerben in der Platte erkennen, aber auch auch Strichmännchen oder andere Kunstwerke.
Manchmal fragte ich mich, ob ich Beaus Scherze lustig finden würde, wenn sie jemand anderen treffen würden. Wenn er sich statt auf mich, vielleicht auf Khan eingeschossen hätte, der sich als Kleinkind einmal den Arm gebrochen hatte und seitdem nicht mehr fliegen konnte.
Ich wünschte, ich hätte behaupten können, dass ich niemals andere auslachen würde.
Aber die Wahrheit war: Würde Beau sich ein neues Opfer suchen, würde ich sehr laut mitlachen, bloß um endlich dazuzugehören.
Plötzlich war ein lautes, helles Glockengeläut zu hören. Sofort rannten vor dem Klassenraum Lasins über die Brücken, die die Bäume miteinander verbanden. Auch drinnen herrschte sehr schnelle eine rege Aufregung. Beau sprang von seinem Tisch, rannte durch den Raum und lauschte an der Tür.„Du darfst da nicht raus!", quiekte Gnaha auf.
„Das ist der Alarm für die Jäger", stellte Crow fest, obwohl alle das längst gewusst hatten.
Beau warf einen Blick über die Schulter, dann grinste er mich direkt an.
Ich schluckte schwer.
„Ich wette, Raven traut sich nicht, den Jägern zu folgen!", sagte er und ein lautes Gackern folgte.
Eine merkwürdige Stille im Klassenraum entstand.
„Wenn ein Alarm ertönt, müssen wir uns von den Brücken zurückziehen und warten, bis es wieder ruhig ist", zitierte Kerí die Regel, die man uns Kindern einschärfte, sobald wir denken konnten.
Beau sah mich unverwandt an und reckte sein Kinn hervor. „Was ist?", fragte er abenteuerlustig. „Traust du dich?"
Ich schluckte schwer. Spürte, wie sich nach und nach die Augen meiner Kameraden auf mich legten.
„Winterraben sind feige", hörte ich Kraii sagen, wandte aber nicht den Blick von Beau ab. „Deswegen haben sie das Massaker auch nicht überlebt."
„Okay, ich gehe", sagte ich, und noch bevor ich wusste, was ich tat, war ich aufgestanden und zu Beau gegangen.
Ein Stuhl wurde zurückgeschoben. „Das ist doch irrsinnig!", rief Runa entsetzt, doch sie konnte es auch nicht verstanden.
Ich wollte nicht feige sein. Und mehr als das, wollte ich beweisen, kein Winterrabe zu sein. Nicht nur, zumindest.
Beau öffnete die Tür, und ich verwandelte mich in meine Tiergestalt. Draußen auf den Brücken und den Plattformen war einiges los; als ich mich zwischen die Raben gesellte, die sich bereits verwandelt hatten, achtete kaum jemand auf mich. Es war das totale Chaos.
Es war perfekt. Ich konnte mich zwischen ihnen mogeln und keiner nahm Notiz von mir. Ich folgte den Raben weiter in die Höhe, bis über die Baumwipfel unseres Laubwaldes. Ich wusste, sich so der Zauber unserer Stadt auflöste. Um in den Bäumen zu leben, musste man kleiner sein, und wie durch ein Wunder schrumpfte man in Lavuco, sodass man selbst in seiner Menschengestalt nicht größer war als ein normaler Vogel.
Ich hielt mich zurück, um nicht aufzufallen, und bildete das Schlusslicht. Beinahe hätte ich geglaubt, es wäre einfach nur ein Ausflug, bis wir den Wald hinter uns ließen, über ein Tal hinwegflogen, bis zu einem Dorf, dass lichterloh brannte.
Ich drosselte meine Geschwindigkeit, ließ die anderen Raben weiterfliegen. Jetzt verstand ich den Alarm. Jäger sollten herkommen und entweder Überlebenden helfen, oder das Fleisch der Toten einsammeln.
Bei allen Göttern, der Anblick war grausam. Es war unwahrscheinlich, irgendjemanden zu finden, dem sie helfen könnten. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, zwischen den Flammen jemanden zu entdecken.
Doch alles, was ich sah, waren drei Dschungeltiger, die sich in der Nähe des Dorfes hinter einem Felsen aufhielten und warteten. Der jüngste von ihnen war selbst noch ein Kind, wie ich.
Was hatten Dschungeltiger hier verloren? Es war nicht ihr Sektor. Mein Vater hatte mir erklärt, dass Sempera von den anderen Lasins in vier Zonen aufgeteilt worden war. Sicher hatte Aurora ihre Finger im Spiel. Soweit ich wusste, gehörte dieses Tal zum Sektor der Wölfe.
Raven?!
Oh nein! Ich hörte die wütende Stimme meines Vaters in meinem Kopf, doch noch ehe ich umdrehen und schnell zurück fliegen konnte, tauchte sein drohender Körper über mir auf.
Jetzt würde es richtig Ärger geben.
„Ich verstehe einfach nicht, was du dir dabei gedacht hast!", schloss mein Vater seine Wutrede und blieb in unserem Wohnzimmer stehen.
Ich saß mit meiner Mutter auf dem Sofa und ließ es über mich ergehen.
„Du hättest tot sein können!", setzte er noch hinzu.
„Ashamo", seufzte meine Mutter schließlich. „Du hast doch selbst gesagt, es waren keine schwarzen Gefährten mehr vor Ort."
„Dennoch würde ich gerne wissen, warum sich mein eigener Sohn über meine Regeln hinwegsetzt!", entgegnete er wütend. „Raven! Schau mich wenigstens an, wenn ich mit dir rede!"
Langsam hob ich meinen Blick und bekam ein schlechtes Gewissen. Er sah ehrlich besorgt aus. Seine braunen Augen, die so typisch waren für Steinraben, loderten vor Sorge.
„Also?", fragte er. „Warum hast du dich in solche Gefahr gebracht?"
Ich schluckte schwer. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Dann würde er Beau zur Rede stellen, im schlimmsten Fall bestrafen, und ich würde bis in alle Ewigkeit der Winterrabe sein, der ihn verraten hatte.
„Ich ... Ich wusste nicht, dass es gefährlich sein würde", murmelte ich schließlich. Es war nur eine halbe Lüge. Ich hatte die Gefahr tatsächlich unterschätzt. „Es tut mir Leid!", fügte ich hinzu, und das war sogar die Wahrheit.
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Brüder
FantasyRaven ist nicht nur ein Vogellasin, sondern auch ein Misces - Ein Mischlasin, was bedeutet, dass seine Eltern unterschiedlicher Arten sind. Trotz der Tatsache, dass sein Vater der Bürgermeister der Rabenstadt Lavuco ist, behandeln ihn die anderen Ki...