Die nächsten Tage erforderten tatsächlich all unsere Kraft. Wie durch ein Wunder fanden wir am Tag nach unserem Aufbruch aus der Höhle, eingepackt in dicke Felle, eine andere Vogelstadt. Bleiben konnten wir nicht. Wir wurden fortgeschickt, bloß weil wir Steinraben waren und die Vögel nicht wollten, dass sich etwas vermischte.
So suchten wir weiter nach einem Ort, an dem wir bleiben konnten. Noch einmal hatten wir nicht das Glück, eine Höhle zu finden, und auch Futter war knapp. Das Gute war, dass man sich schneller an den leeren Magen gewöhnte, als ich gedacht hatte. Es dauerte nur ein paar Tage, ehe ich gar nicht mehr wahrnahm, Hunger zu haben.
An unserem 9. Tag unterwegs Richtung Norden schrie Cerva auf einmal so laut, dass es von den Bäumen widerhallte.
„Scht", machte Rejken und steckte ihr wieder ihren Zeigefinger in den Mund, doch dieses Mal wollte sich das kleine Mädchen nicht vertrösten lassen. Sie heulte weiter, so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste.
Im Nachhinein fragte ich mich, ob es etwas geändert hätte, wenn ich das nicht getan hätte. Ob ich ihn gehört hätte. So oder so hatte Cerva uns allen das Leben gerettet.
Denn urplötzlich tauchte eine Eule mit braunem Gefieder hinter mir auf. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es eine Eule war, ich hatte auch nichts gehört. Ich hielt mir ja die Ohren zu.
Aber Crow entdeckte die Eule hinter mir und zeigte auf sie, wobei ich ja noch nicht wusste, dass hinter mir jemand war. Stattdessen starrte ich Crow an, als wäre er völlig bescheuert, bis Runa neben mich trat, nach meinen Händen griff und sie runter zog. „Hinter dir!", rief sie, und ich machte schlagartig auf dem Absatz kehrt – Gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie die Eule auf dem Boden landete und sich in einen Mann mit braunem Haar verwandelte.
Er trug eine braune Hose und ein helles Hemd, darüber einen Mantel aus braunem Fell.
Rejken kam zu mir gelaufen und stellte sich schützend vor mich, die schreiende Cerva noch immer im Arm haltend. Crow und Kraii kamen zu uns gerannt. Innerhalb weniger Sekunden bildeten wir eine Art schützende Mauer.
Der Mann hob beide Hände. „Ich bin nicht hier, um euch wehzutun", verkündete er behutsam und deutete auf Cerva. „Ich hörte ein Kind schreien."
Prompt hörte die Kleine auf zu weinen. Ganz toll.
„Mein Name ist Elran", stellte er sich vor und zeigte gen Himmel. „Ich bin Wächter in Hinhan. Was macht ihr hier?"
„Ich bin mit meinen Kindern auf der Flucht", antwortete Rejken ehrlich, ließ es sich aber nicht nehmen, angriffslustig ihr Kinn hervor zu recken.
Elran nickte verständnisvoll und sah zu uns Kindern. Unwillkürlich rückten wir noch näher zusammen.
„Seid ihr Steinraben?", fragte er. Als Rejken nickte, wurde seine Miene kummervoll. „Ich hörte von dem Angriff auf Lavuco. Es hieß, es gäbe keine Überlebenden."
„Gibt es auch nicht. Außer uns", sagte Rejken mit klarer Stimme. „Möglicherweise konnte sich jemand retten, der gerade auf Reisen war und sich nicht in der Stadt befand, aber davon weiß ich nichts."
„Aber du weißt sicher, dass der Winter erst begonnen hat und noch viel schlimmer wird", sagte Elran. „Du kannst mit deinen Kindern nicht so umherziehen."
„Das ist mir bewusst, aber bisher wollte uns keiner aufnehmen. Wenn Ihr also nichts weiter zu sagen habt, würde ich jetzt gerne weiter."
Der Fremde zog seine Mundwinkel zu einem freundlichen Lächeln hoch. „Ihr könnt mit mir kommen", sagte er. „Wir werden schon ein Plätzchen in Hinhan für euch finden."
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Brüder
FantasíaRaven ist nicht nur ein Vogellasin, sondern auch ein Misces - Ein Mischlasin, was bedeutet, dass seine Eltern unterschiedlicher Arten sind. Trotz der Tatsache, dass sein Vater der Bürgermeister der Rabenstadt Lavuco ist, behandeln ihn die anderen Ki...