8. Türchen

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HARRY

08.12. :

Da ich letzte Nacht ja gar nicht geschlafen hatte, schlief ich heute bis 12 Uhr mittags. Als ich aufwachte, saß Louis auf seinem Bett und las ein Lehrbuch. "hey", sagte ich heiser, weil noch verschlafen. "hey". Dann sah ich den Coffee-To-Go-Becher und die Papiertüte auf meinem Nachttisch, beides vom Coffeeshop. "Was ist das?", fragte ich Louis und setzte mich auf. "Ein doppelter Espresso und ein Bananen-Muffin, aber beides ist jetzt schon kalt geworden". "Das macht mir nichts aus", stellte ich wahrheitsgemäß fest, nahm den Muffin in meine Hand und biss enthusiastisch hinein. Dann grinste ich Louis mit vollem Mund und vor mich hin kauend an, und er lachte verhalten. "Okay". "Hmmmmmh, ich liebe Bananen!", rief ich begeistert und trank auch noch von meinem Kaffee. "Darauf wette ich", sagte Louis, und fast hätte ich mich an dem Kaffee verschluckt, aber ich schaffte es, es nicht zu tun.

"Wie geht es dir heute?", fragte ich Louis, um mich selbst vom Gedanken an SEINE Banane abzulenken. "Besser". "Das freut mich". "Es tut mir leid wegen gestern, Harry, ich war nicht ich selbst und es war nicht okay von mir, Sex von dir zu verlangen, denn so sollte dein erstes Mal mit einem Kerl nicht sein". "Es ist alles gut, Louis". "Und außerdem hatte ich auch gar kein Recht dazu, eifersüchtig auf diesen Typen zu sein, denn du bist mir ja zu nichts verpflichtet". "Ich will mein erstes Mal mit dir erleben, okay? Das war mein Ernst". "Okay". Wortlos aß ich meinen Muffin auf - und dann fuhr Louis fort :

"Du bist vor einer Woche hier eingezogen und was seitdem zwischen dir und mir passiert ist, das ist ... es ist mir too much, aber ich will es trotzdem". "Ich auch, aber dafür musst du mir vertrauen". "Ich versuche es, aber wenn du mich verarscht, dann werde ich daran zu Grunde gehen", sagte er - und langsam aber sicher verzweifelte ich an meinem Versuch, ihm zu beweisen, dass ich ihm nichts Böses wollte. Dass ich ihn mochte, denn das tat ich. Sehr sogar. Aber er konnte nichts dafür. Es war einfach eine beschissene Situation.

Und dann traf ich eine spontane Entscheidung.

Ich stand auf, ging zu Louis und setzte mich vor ihm auf sein Bett. "Willst du wissen, wo ich letztes Jahr war?", fragte ich ihn und er legte sein Lehrbuch achtlos weg. "Ja". Ich atmete einmal tief durch und bereitete mich innerlich auf das Gespräch vor, das mir jetzt bevorstand. Meine Mum war die einzige Person, die wusste, wo ich letztes Jahr gewesen war, aber sie wusste nicht, was mir dort passiert war. Was mich zu diesem neuen Menschen gemacht hatte, der gut sein wollte. Niemand wusste es.

"Ich war auf einer Militärakademie. Meine Mum hat es mit mir nicht mehr ausgehalten und mich dort hingeschickt und damit hatte sie völlig recht. Obwohl 'hingeschickt' nicht stimmt. Mitten in der Nacht standen plötzlich zwei Soldaten in meinem Zimmer und haben mich aus dem Bett gezerrt, das war wie in einem schlechten Film", erzählte ich Louis und er hörte mir wortlos zu. Sein Gesichtsausdruck war neutral, und als er mir einmal zunickte, um mir stumm zu signalisieren, dass ich fortfahren sollte, tat ich es :

"Jedenfalls ... als ich dann dort war, war ich plötzlich nicht mehr so cool wie auf der Highschool. Im Gegenteil, Louis, ich war DU und hatte meinen eigenen Harry, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat. Nur dass er John hieß. Er war ein noch schlimmerer Bastard als ich, also hatte ich keine Chance gegen ihn, und ich war alleine. Da wusste ich plötzlich, wie es ist, der Schwächere zu sein und niemanden zu haben, der einem hilft. Und dann hat er mich einmal alleine im Duschraum angetroffen und wollte mich vergewaltigen". "Um Gottes Willen!", rief Louis und starrte mich schockiert an. "Er hat es nicht geschafft. Ein Offizier hat mich schreien gehört und ist gekommen. John wurde noch am selben Tag rausgeworfen und ich habe ihn nie wieder gesehen". "Fuck Harry, das ist ja schrecklich!". "Ja, aber es war der Arschtritt, den ich gebraucht habe. Das Universum hat mich für mein beschissenes Verhalten bestraft und seitdem versuche ich, ein guter Mensch zu sein. Wenn ich daran denke, dass ich dir dasselbe Gefühl gegeben habe wie dieses Arschloch mir ... aber im Gegensatz zu mir hast du gleichzeitig auch noch deine Mum verloren und um sie getrauert ... und ich war so scheisse zu dir ...". Ohne es zu wollen, fing ich an zu weinen - und sofort schlang Louis seine Arme um meinen Rücken. Ich setzte mich rittlings auf seinen Schoss und ließ es zu, dass er mich festhielt. Gestern hatte ich ihn getröstet und heute tröstete er mich.

"Das tut mir so leid für dich, Harry". "Nein, MIR tut es leid, dass ich ... so ... zu dir war, es ... es tut mir so leid", schluchzte ich. Ich drückte mein Gesicht in Louis Halsbeuge und er ließ mich einfach weinen. Jetzt kannte er mein Geheimnis. Nun hatte ich mich ihm gegenüber verletzlich und verwundbar gemacht, aber es machte mir nichts aus.

"Ich verzeihe dir", sagte er nach fünf Schweigeminuten und ich hob meinen Kopf hoch und sah ihn überrascht an. "Was?!". "Nun ja, ich versuche es". "Damit kann ich leben". "Okay".

Als ich mich wieder beruhigt hatte, unterhielten Louis und ich uns über Gott und die Welt. Er erzählte mir alles über seine Mum, mit einem Lachen und einem Weinen, und zum ersten Mal lernte ich ihn richtig kennen. Und ich fand es toll.

LOUIS

Als es langsam dämmerte kam mir eine Idee.

„Los, zieh dir was Warmes an, wir gehen raus.“, sagte ich zu Harry und stand auf. „Wo willst du hin?“ „Ich will hier raus, los, steh auf und zieh dich an.“, grinste ich und zog mich selber warm an. Ich wartete bis Harry fertig war und ging dann mit ihm zum Weihnachtsmarkt.

Es schneite ein wenig und in der Dämmerung sah der Weihnachtsmarkt wie ein Winterwonderland aus.

„Oh Louis, das war eine gute Idee!“, sagte Harry verzaubert und ich nickte. „Hin und wieder habe ich auch gute Ideen.“, erwiderte ich und Harry sah mich lachend an. „Du spinnst!“ Wir gingen an den ersten Punschstand und ich spendierte uns zwei Tassen Punsch. Mit dem dampfenden Getränk in der Hand bummelten wir über den Markt und ich konnte Harry nicht davon abhalten, etwas Weihnachtsdeko für unser Zimmer zu kaufen.

„Wenn ich mir das so ansehe, dann bist du definitiv schwuler als ich.“, sagte ich zu ihm und Harry sah mich mit offenem Mund baff an. „So? Für dich ist das also ein Wettbewerb?“, fragte er mich dann grinsend und seine Körperhaltung bediente die Schwulenklischees perfekt! Ich lachte und machte es ihm nach. Wir hatten jede Menge Spass und die Leute sahen uns komisch von der Seite an, aber wir fanden es so lustig, dass uns die Blicke egal waren.

Ich stellte fest, dass man mit Harry echt Spass haben konnte und dass ihm eigentlich nichts zu blöd war. Es tat unendlich gut zu lachen und nicht an Morgen zu denken.

Wir brachten die leeren Tassen zurück und ließen sie nachfüllen. Dazu holten wir uns Bratwürstel mit Sauerkraut und aßen schweigend im leichten Schneefall.

„Danke, Louis.“ „Wofür?“ „Dafür, dass du mit mir hergekommen bist.“ „Ich hab noch eine Überraschung für dich.“, sagte ich. „Noch eine?“, fragte Harry ungläubig nach und ich lachte. „Ja, iss fertig und dann komm mit.“

Nachdem er aufgegessen hatte, führte ich ihn zur Haltestelle des kleinen Bummelzuges und wir warteten auf die Ankunft der kleinen Lok und ihrer Waggons. „Fahren wir damit?“, fragte Harry mich aufgeregt und ich nickte. Ich bezahlte den Fahrpreis und wir stiegen in den letzten Waggon. Harry war wie ein kleiner Junge und klebte mit der Nase fast am Fenster.

Als der Zug mit einem Ruck anfuhr nahm Harry meine Hand in seine. Mit einem Lächeln sah ich auf unsere Hände und legte dann meinen Kopf auf Harrys Schulter. Leute winkten uns zu und Harry winkte immer brav zurück. Ich ließ mich von seiner kindlichen Freude anstecken und wir begannen Weihnachtslieder zu singen. Total daneben zwar, denn keiner von uns traf einen Ton, aber lauthals und mit Begeisterung.

Seit meine Mum vor drei Jahren gestorben war, hatte ich nicht mehr so viel Spass gehabt!

Harry und ich gingen, schweigend und noch immer Händchen haltend, langsam über den Campus und zu unserem Wohnheim.

„Vielen Dank für den schönen Abend!“, sagte Harry atemlos als wir im Zimmer ankamen. „Schon okay.“, antwortete ich und wollte meine Hand aus seiner nehmen, aber er ließ mich nicht los. Stattdessen zog er mich an sich und wir küssten uns.

Treat People With Kindness  - AdventkalenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt