23. Kapitel

23 1 0
                                    

Mit einem letzten Armzug erreichte Julian die Bande. Atemlos tauchte er auf und riss sich seine Schwimmbrille vom Gesicht. Emily sass vor ihm am Beckenrand, das Kinn auf ihr Knie gestürzt und lächelte ihn an.
Er musste ebenfalls lächeln.
„Du hast jetzt 30 Bahnen geschafft, das ist eine gute Leistung für den Anfang. Jetzt mach erst mal Pause. Ich hol dir etwas zu trinken", sie erhob sich und ging zu ihrer Sporttasche, die sie neben dem Schwimmbecken auf eine Bank gelegt hatte.
Julian hievte sich auf den Beckenrand. Seine Arme pochten und er fühlte sich ziemlich ausgelaugt. Schwimmen war wirklich anstrengend.
Er sah Emily nach, erfasste aufmerksam jede ihrer grazilen Bewegungen und visualisierte all die Wassertropfen, die ihren zarten Körper hinab rannen. Ihr schulterlanges hellblondes Haar, dass ihr nass auf der Haut klebte glänzte im Licht der Sonne.
Er lächelte.
Sie hatte das Wasser gefunden und drehte sich wieder zu ihm um.
Rasch sah Julian woanders hin. Emily sollte nicht merken, dass er sie beobachtete.
Sie kam zurück, reichte ihm das Wasser und setzte sich dann wieder neben ihn.
Während er trank warf er ihr einen Seitenblick zu. Sie betrachtete neugierig die anderen Leute, die sich im örtlichen Schwimmbad tummelten.
Im Planschbecken spielten noch ein paar wenige kreischende Kinder, deren Eltern in aller Ruhe am Rand sassen und die Wärme der Sonne nach einem anstrengenden Arbeitstag genossen.
Auf der Liegewiese tummelten sich noch einige Jugendliche, die dem Sommer hinterher hingen.
Eine Familie war mit einem Grossaufgebot an Lebensmitteln aufgetaucht und hatte begonnen einen Grill anzuheizen.
„Wie viele Bahnen hast du geschafft?", fragte er und fuhr sich durch die tropfnasses Haare.
Sie grinste frech:" Ein paar mehr."
„Ein paar mehr?", er zog grinsend die Augenbrauen hoch.
Sie lachte:" Okay, sagen wir etwas mehr als das doppelte was du geschafft hast."
Gespielt geschockt sah er sie an:" Das nennst du ein paar mehr? Emily, dass ist schon nicht mehr menschlich. Du weisst wirklich, wie man jemanden motiviert", er lachte.
Sie grinste und zuckte unschuldig mit den Schultern:" Ich weiss gar nicht was du hast. Du schlägst dich echt toll. Warte ab, bis du mich auf dem Bike siehst, dann wirst du dir wünschen dich nie auf die Sache eingelassen zu haben."
Er sah sie an. Ihr Lächeln war wunderschön.
Es war ein warmer, verheissungsvoller Sommerabend und er sass hier mit diesem hübschen, netten Mädchen.
„Ich bin froh, dass wir das machen.", er sah sie aufrichtig an.
Sie wandte sich ihm neugierig zu.
„Es ist genau das was ich jetzt brauche. Etwas Ablenkung von allem was gerade passiert", er schluckte und sah aufs Wasser.
„Du meinst den Mord, das verschwinden von Jona und...den Unfall deiner Schwester, oder?", fragte Emily vorsichtig.
Er nickte ohne sie anzusehen. Er wusste, dass er mit ihr darüber reden konnte, doch es fiel ihm dennoch schwer. Es war mehr als das alles, was ihn bedrückte.
„Es ist wirklich beängstigend, was momentan alles passiert", meinte Emily nachdenklich.
Ihre Wortwahl liess Julian den Kopf heben:" Hast du Angst?", fragte er besorgt.
Sie dachte kurz darüber nach und schüttelte dann den Kopf:" Ehrlich gesagt, nein. Aber ich glaube das liegt daran, dass ich einfach noch nicht realisiert habe, was da gerade geschieht. Es ist noch so unwirklich. Ich meine, man hört immer von solchen Dingen aber man kann nicht nachvollziehe was es bedeutet, wenn man tatsächlich selbst davon betroffen ist, verstehst du?"
Julian nickte nachdenklich.
Er sah sich noch ein weiteres Mal im Schwimmbad um. Er blickte auf die Mütter die ihre Kinder, trotz ihrer scheinbaren Gelassenheit keine einzige Sekunde aus den Augen liessen. Er sah die Jugendlichen, die sich schon viel früher als sonst auf den Heimweg machten weil ihre Eltern nicht wollten, dass sie abends alleine draussen blieben. Er hörte die Familie beim Essen über den Mord und den verschwundenen Jungen reden. Und er sah den Bademeister, der noch mehr als sonst darauf achtete, dass alles seine Richtigkeit hatte und argwöhnisch in die Runde blickte.
Julian seufzte: Und dennoch betrifft es uns irgendwie. Obwohl alle versuchen so weiter zu machen wie bisher, ist es einfach nicht mehr das gleiche. Etwas hat sich verändert."
Seine Stimme war ernst geworden. Emily wartete aufmerksam ab, was er zu sagen hatte.
Er sah gedankenversunken auf's Wasser das immer wieder von neuem über den Rand schwappte.
„Ich hab als Kind immer geglaubt, dass unser Dorf der sicherste Ort auf der Welt sei. Ich hatte nie Angst, wenn ich abends noch lange draussen war. Warum auch? Ich kannte jeden Stein und jeden Grashalm auf dem Weg in die Schule, zum See oder zum Supermarkt. Die Leute haben mich gegrüsst und angelächelt. Ich hab mich darauf verlassen, dass es immer so bleiben würde, aber das ist es nicht. Die Dinge haben sich verändert.
Ich hab es gespürt, als Chiara und Christian uns verlassen haben. Es war, als ob mit ihnen all die Sicherheit und das Glück verschwunden wäre. Ich wusste es in dem Moment, als sich Christian ein letztes Mal von mir verabschiedet hat. Da hatte ich zum ersten Mal dieses ungute Gefühl. Und dann hatte meine Schwester diesen Autounfall...", er stockte, um seine Gedanken zu sammeln. Das alles schwirrte ihm schon seit Wochen durch den Kopf.
Er holte tief Luft und fuhr fort:" Die Wahrheit ist, dass ich Veränderungen verabscheue. Ich hasse es hilflos zusehen zu müssen, wie sich auf einmal alles in die völlig falsche Richtung bewegt und das tut es definitiv. Ich wünschte bloss, alles würde für immer gleich bleiben, aber stattdessen zerfällt gerade alles vor meinen Augen. Meine Schwester liegt im Koma, Jona wird vermisst und ich kann absolut nichts dagegen tun."
„Hey," Emily legte unvermutet ihre Hand auf seine. Er sah hinab auf ihre Hände, als sie fortfuhr:" Du hast Recht, es hat sich viel verändert. Seit Chiara und Christian gegangen sind existiert unsere Gruppe nicht mehr. Dies ist unseres letztes Schuljahr und es schmerzt zu denken, dass sie und Jona vielleicht nicht dabei sein werden. Aber auch wenn alle angesichts Jona's verschwinden plötzlich durchdrehen ist etwas immer noch gleich. Wir zwei sind hier, wie all die Jahre zuvor. Wir sind immer noch die gleichen und daran wird sich auch nichts ändern, okay?"
Julian hob den Kopf. Sein Blick fand den ihren und als er ihr nun direkt in ihre strahlend blauen Augen sah war es, als würde er um einige Jahre zurück versetzt.

The devil is a dreamer * Episode 2: Vermisst*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt