22. Kapitel

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„Psst, Elias."
Elias zuckte zusammen, als ihm jemand nach der Schule auflauerte und ihn hinter eine Häuserecke zog. Doch als er Tarek erkannte, lockerten sich seine angespannten Muskeln wieder.
„Mann, Tarek was machst du hier?", er empfand es als merkwürdig, dass Tarek den ganzen Tag nicht in der Schule gewesen war und jetzt plötzlich hier auftauchte.
Tarek sah total fertig aus. Er war blass, ungekämmt und hatte dunkle Ringe unter seinen Augen. Trotzdem versuchte er noch lässig dazustehen und cool zu wirken.
„Kannst du mir Geld borgen?", fragte Tarek bloss.
Elias zog die Augenbrauen hoch:" Warum brauchst du Geld?"
Da erklärte ihm Tarek seine Situation. Er erzählte es so, als wäre es keine grosse Sache und machte gehässige Bemerkungen über seine Familie, doch sein aufgesetztes Grinsen erreichte nicht seine müde wirkenden Augen.
Am Ende hatte Elias genickt:" Alles klar, ich komm mit dir zum Supermarkt."
Dort, hatte er für Tarek ein Sandwich, Chips und einige grossen Flaschen Wasser besorgt.
Tarek hatte erst eine ganze Flasche Wasser hinuntergestürzt und dann gierig das Sandwich verschlungen.
„Scheisse, ich glaube ich war noch nie so hungrig. Danke, Mann", meine er anschliessend.
„Kein Ding. Du hast gesagt du pennst in dem verlassenen Fabrikgebäude? Ich kann dich hinfahren, wenn du möchtest."
Tarek hatte kurz überlegt und dann genickt.
Also waren sie gemeinsam auf Elias Mofa zu der heruntergekommenen Fabrikhalle gefahren.
Elias staunte als er Tarek durch das Tor folgte.
„Alter, das Auto ist ja mega! Wo hast du das her?"
Tarek grinste selbstgefällig:" Gina hat es mir geschenkt nachdem sie damit gegen eine Strassenlaterne gefahren ist. Sie hätte mich dabei fast überfahren. So haben wir uns kennengelernt."
„Und dann hat sie dir als Entschuldigung einfach ihr Auto überlassen?", Elias sah ihn zweifelnd an.
Tarek zuckte mit den Schultern:"Na ja, sie wollte es nicht mehr haben als es beschädigt war und ich fand es nur fair nachdem sie mich...", er stockte abrupt. Verwirrt fasste er sich am Kopf an die Stelle, an der er noch immer eine kleine Wunde hatte, von der Elias nicht wusste woher sie stammte.
„Nachdem sie was?", hakte er nach.
Tarek schüttelte abweisend den Kopf: Keine Ahnung, ist auch egal", er sah ihn plötzlich misstrauisch an:" Du sagst keinen, dass ich hier übernachte, oder?"
Elias lächelte:" Natürlich nicht. Ich kann auch meinen Vater fragen, ob du eine Weile bei uns unterkommen kannst", bot er an.
„Nein, schon gut. Ich bin ganz zufrieden so", wimmelte Tarek ab.
Elias vermutete, dass Tarek sich vor seinem Vater fürchtete. So ging es den meisten seiner Freunde.
„Alles klar. Ich muss dann mal los. Ich werde morgen früh nochmal vorbeikommen und dir paar Klamotten und eine Decke mitbringen."
„Das wär wirklich cool, Mann", Tarek war offensichtlich erleichtert.
Sie hatten sich verabschiedet und Elias hatte sich auf den Heimweg begeben.

Er und sein Vater wohnten abgelegen im Wald, in einem alten Häuschen mit angrenzendem Schuppen, den sein Vater in eine Werkstatt umgewandelt hatte.
Elias stellte sein Mofa auf den Hof zu ein paar rostigen Fahrrädern und Mofas, die sein Vater restaurieren wollte. Sein Vater war ein leidenschaftlicher Mechaniker. Sein Herz schlug für jegliche Art von Motoren. Besonders hatten es ihm allerdings Motorräder angetan.
Elias lief ins Haus. Obwohl es ein reiner Männerhaushalt war, war alles sauber und gemütlich eingerichtet. Sein Vater legte grossen Wert darauf, dass alles seine Ordnung hatte.
„Papa?!", rief Elias seinen Vater und legte seinen Rucksack auf die Eckbank.
Als er keine Antwort bekam lief er in die Küche um nachzusehen, ob sein Vater vielleicht eine Nachricht für ihn hinterlassen hatte.
Es kam öfters vor, dass Elias nach Hause kam und sein Vater verschwunden war. Sein Vater verdiente ihr Geld mit allen möglichen Jobs. Wenn er weg war, fuhr er als Lastwagenfahrer durch Europa, arbeitete als Bauarbeiter unter der Erde an einem Tunnel, oder begleitete einen Wanderzirkus als Handwerker. Dann legte er immer eine Nachricht und Geld bereit, damit Elias die nächsten Wochen ohne ihn auskam.
Elias hatte somit früh gelernt Verantwortung zu übernehmen und alleine klarzukommen. 
Doch jetzt lag da kein Zettel.
Elias konnte entferntes fluchen hören. Er vermutete zu wissen, wo sich sein Vater befand.
Also ging er zurück auf den Hof auf denn Schuppen zu. Er bückte sich nach dem grossen Garagentor und zog es mit Leichtigkeit hoch.
Dahinter kam ein fensterloser Raum zum Vorschein. Zwei blitzblanke Motorräder standen mitten im Raum. Das eine davon, war die geliebte alte Harley seines Vaters. Ein echtes Sammlerstück.
An den Wänden standen metallene Werkbänke und allerlei Werkzeuge waren ordentlich an Nägeln aufgehängt.
Aus dem Nebenraum drang heftiges poltern. Elias folgte dem Lärm.
Der nächste Raum war noch grösser. Hier standen gestern noch vier Motorräder, doch Elias bemerkte sofort dass eines fehlte.
„Papa, was ist los?", fragte er seinen Vater der gerade wutentbrannt einen Hammer durch den Raum warf. Elias duckte sich gerade noch rechtzeitig und der Hammer schlug ein Loch in die Wand hinter ihm.
„Siehst du das nicht?! Irgend ein verdammter Schweinehund hat eins meiner Motorräder gestohlen", sein Vater fegte wütend alle Utensilien von der Werkbank.
Elias wusste um welches Motorrad es sich handelte. Es war die neuste Errungenschaft seines Vaters eine BMW R 1250 GS auf die er unheimlich stolz gewesen war.
Genauso schnell wie er sich aufgeregt hatte beruhigte sich sein Vater auch wieder. Entsetzt sah er auf das Loch, dass er mit dem Hammer in die Wand geschlagen hatte.
„Tut mir leid, Elias. Hast du dir was getan?", fragte er besorgt.
Elias sah kontrollierend an sich hinab und lächelte dann:" Nein, alles noch dran. Keine Sorge, Papa."
Er hätte es sowieso nicht gespürt, wenn der Hammer ihn getroffen hätte. Elias fühlte keinen Schmerz, das war schon seit seiner Geburt so. Daran war irgend eine Genmutation schuld, das hatte ihm sein Vater einmal erklärt. Elias Liste an Verletzungen als Kind war deshalb endlos gewesen, da sein Körper meinte die Reflexe und Strategien zur Unfallvermeidung  nicht zu benötigen. Einmal war er so schlimm mit dem Fahrrad gestürzt, dass er sich überall schrecklich, blutende Wunden zugezogen hatte, doch er hatte es nicht mal gemerkt und war ganz normal wieder aufgestiegen. Erst als ihn eine geschockte Passantin stoppte, war ihm klar geworden, wie schlimm er sich verletzt hatte. Elias hatte in seinem Leben auch nie richtig geweint. Als Kind hatte er früh bemerkt, dass die Menschen irgendwie von ihm erwarteten, dass er weinte wenn er sich verletzte. Also hatte er immer das weinen der anderen Kinder imitiert, obwohl er dafür eigentlich keinen Grund gesehen hatte.
Ausserdem besass er ein äusserst starkes Immunsystem. Im Gegensatz zu allen anderen in seiner Klasse, war er nie an der Grippe oder den Masern erkrankt. Er kannte weder Mumps noch Kopf- oder Halsschmerzen. Nicht mal ein Schnupfen hatte ihn je befallen.
Deshalb hatte ihn sein Vater auch noch nie zu einem Arzt gehen lassen. Er meinte die Ärzte würden ihn nur zu einem Versuchsobjekte erklären, falls sie von seinen Fähigkeiten erfuhren.
Früher hatte er aus alldem noch kein Geheimnis gemacht und es allen seinen Freunden erzählt. Doch er hatte die Erfahrung gemacht, dass nicht jeder mit dieser Information umgehen konnte. Einige hatten ihn als merkwürdig und sonderbar betitelt und einmal hatte ein Junge ihn so lange aufgefordert sich selbst zu verletzten, dass er ihm schlussendlich mit einem Faustschlag drei Zähne ausgeschlagen hatte. Darum hatte Elias beschlossen seine besonderen Eigenschaften künftig lieber nicht mehr zu erwähnen.
Sein Vater atmete tief durch. Seine Muskeln bebten immer noch.
Elias konnte nicht verstehen, weshalb man sich vor ihm ängstigen sollte. Er war zwar ein Riese mit Muskeln wie ein Stier, doch sein Vater war normalerweise die gelassenste Person die er kannte. Beinahe nichts konnte diesen Mann aus der Ruhe bringen. Nur selten fuhr er aus der Haut und dann musste tatsächlich meistens irgend ein Möbelstück daran glauben. Doch Elias hätte sich deswegen niemals vor ihm gefürchtet.
Allerdings konnte er das auch gar nicht. Denn mit der Schmerzfreiheit einher ging die Angstfreiheit.
Viktor Wachowiak begann die Werkzeuge vom Boden aufzuheben:" Ich weiss, ich sollte mich nicht so aufregen, aber was hier momentan alles geschieht bereitet mir Sorgen."
„Du meinst der Mord und die Entführung?", fragte Elias und machte sich daran seinem Vater zu helfen.
Viktor nickte nachdenklich:" Ja, ich hab mir ein paar Gedanken diesbezüglich gemacht. Ich möchte nicht, dass du da in etwas verwickelt wirst", sein Vater warf ihm einen warnenden Seitenblick zu."
Elias lachte:" Warum sollte ich darin verwickelt werden, Papa?", dann wurde er misstrauisch. Forschend sah er seinen Vater an:" Du willst doch deshalb nicht schon wieder umziehen, oder? Du hast mir versprochen, dass wir mindestens bis zu meinem Abschluss hier bleiben."
Elias wollte nicht erneut die Schule wechseln. Das hatte er in seinem Leben bereits zu oft getan. Auf der Suche nach Arbeit war er mit seinem Vater ausser in Deutschland schon in Polen, Tschechien und Ungarn gewesen. Jetzt wollte er endlich mal an einem Ort bleiben.
„Und an dieses Versprechen halte ich mich auch. Aber ich bin auch dein Vater und deine Sicherheit liegt mir am Herzen..."
Elias grinste:" Hast du etwa Angst, Papa?"
Sein Vater zog die Augenbrauen zusammen:" Ich? Angst? Von wegen! Dieser Mörder soll nur herkommen, dann zeig ich ihm ganz klar wo der Hammer hängt", sein Vater zeigte grinsend auf das Loch in der Wand.
Elias lachte.
Sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schultern:" Ich glaube ich brauch erst mal eine Ablenkung. Ich kann hier auch noch morgen aufräumen. Lass uns jetzt erst mal trainieren gehen."
Elias nickte.
Das Training war eine Leidenschaft von ihm und seinem Vater, die sie schon seit langem gemeinsam teilten. Sein Vater hatte schon immer einen strikten Trainingsplan verfolgt und nachdem Elias dem Jungen die Zähne ausgeschlagen hatte, entwarf er auch einen für ihn.
Seitdem trainierten sie beinahe täglich gemeinsam und auch wenn sein Vater nicht da war, hielt sich Elias strikt an seinen Plan. Der Sport tat ihm gut. Er fühlte sich danach immer ausgeglichen. Und besonders heute konnte er ein bisschen Ablenkung ebenfalls gut gebrauchen. Er empfand zwar keine Angst, aber Mitleid für seine Klassenkameraden. Vor allem für Jojo, der seit Sonntag vermisst wurde. Er hatte sich für den schüchternen, blassen Jungen schon immer irgendwie verantwortlich gefühlt. Jojo war gutgläubig und unschuldig. Das es ausgerechnet ihn hatte treffen müssen versetzte Elias einen Stich.
Er stand auf und machte sich auf zum Haus um seine Kleidung zu wechseln und anschliessend mit seinen Vater in den Wald zum trainieren zu gehen.

The devil is a dreamer * Episode 2: Vermisst*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt