Me Time - Zeit für mich (Gewitter im Kopf)

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Für viele war Zeit für sie allein etwas alltägliches. Morgens im Bad war man selten zu zweit, meistens konnte man dort Ruhe genießen. Wenn man abseits davon seine Ruhe haben wollte, ging man ganz einfach ein Stück weg von all den anderen Menschen um einen herum und wenn man Glück hatte, störte niemand, während man stumm die Sterne am Nachthimmel anstarrte und in den eigenen Gedanken versank.

Für Jan hingegen waren diese Momente eine absolute Ausnahme, denn für gewöhnlich waren sie immer zu zweit allein. Gisela konnte er nicht bitten, ihn für auch nur eine Minute allein zu lassen, sie war immer da und sobald er nicht die volle Konzentration auf sich hatte, trat ihr Gesicht ständig an seine Stelle.
Es war als übernehme sie seinen Verstand, dabei dachte er die ganze Zeit selbst, nur ihre Worte konnte er unmöglich kontrollieren. Sie gehörten untrennbar zusammen, waren dennoch irgendwie zwei Personen und doch wieder ein und der selbe Mensch. Er konnte diesen Zustand schwer erklären, aber immerhin verstand Tim ein bisschen, was in ihm vorging. Natürlich nicht vollkommen, denn das konnte wirklich nur, wer seines Verstandes selbst nicht immer Herr war, aber Jan wusste das und er nahm es Tim in keiner Weise übel. Das Verständnis, das er von Tim bekam, war mehr, als das was ihm die meisten boten. Mitleid von Fremden, die keine Ahnung hatten, brauchte er nicht. Im Gegenteil, er wollte es überhaupt nicht, denn das ließ ihn wirklich so fühlen als wäre er krank und er mochte es nicht, sich selbst als krank zu bezeichnen. Gisela war keien Krankheit, kein Parasit, sondern ein Teil von ihm, den man eben zu akzeptieren hatte. Wer ihn mögen wollte, der musste sich wohl oder übel auch mit Gisela anfreunden.

Für viele mochte es aussehen, als wäre er von Sinnen, jeder sagte ihm, er sei krank, psyschich krank und nicht ganz dicht. Er sei eben anders als die anderen, müsse sich damit abfinden, dass ihm keine ruhige Minute mehr blieb, den ganzen Reat seines Lebens, so wie es auch schon von Geburt an keine gegeben hatte. Er aber sah das anders. Tim sah es anders! Das reichte ihm, was die anderen dachten, war ihm egal.

Schon seit seiner Geburt war Gisela ein Teil von ihm und hatte ihm viel unerwünschte Aufmerksamkeit gebracht. Nun suchten sie die Aufmerksamkeit zwar, indem sie auf Youtube Videos aus ihrem Privatleben veröffentlichten und zeigten, wie man damit umgehen konnte, dass sein eigener Körper nicht immer einem selbst gehörte. Die Zeit, in der sie Videos drehten oder streamten, alles natürlich mit Tim gemeinsam, leibte er. Es machte unheimlich viel Spaß, vor der Kamera war es irgendwie leichter, sich nicht zu verstellen, zumal er das sowieso nicht gut konnte. Gisela konnte man nicht verstecken oder irgendwie geheim halten. Wenn sie etwas sagen wollte, zwang sie seinen Mund auf und brüllte die Worte hinaus und was sie nicht mochte, warf sie durch die Gegend. Jan war schon froh, dass Gisela Menschen und Tiere niemals verletzte. Manchmal machte er sich wirklich Sorgen, er könnte Tim versehentlich weh tun, wenn ihm die Kontrolle über Gisela vollkommen entglitt.
In den Reaktionen auf die Videos sah er aber, dass er anderen eine Freude machen konnte, dass sie darüber lachen konnten. Es freute ihn, spornte ihn an, sich nicht zu verstecken und weiter vor die Kamera zu treten, aber ab und an brauchte auch eine kurze Ruhephase, wo er ganz für sich sein konnte.

Es hatte Ewigkeiten gebraucht, bis er endlich seinen ganz persönlichen Ruhepol entdeckt hatte.
Im Moment genoss er einen dieser ganz seltenen Momente, in denen er einfach stumm daliegen und mit geschlossenen Augen nachdenken konnte.
Sein Kopf ruhte an Tims Schulter, der ein Buch in der Hand haltend und ebenso stumm lesend neben ihm lag.
In diesen Momenten sprach Tim ihn nicht, er strich ihm nur ab und an durch die Haare und beobachtete ihn. Er wusste, dass Jan diese Zeit ab und an brauchte, dann kam er immer zu ihn, setzte oder legte sich schweigend neben seinen Freund und lehnte sich bei ihm an, ohne ein Wort zu sagen.
Am Anfang war Tim verwirrt gewesen, was das sollte, aber Jan hatte ihm erklärt, dass er allein sein wollte.

Tims irritierten, fragenden Blick hatte er unkommentiert gelassen, sich nur lächelnd angekuschelt und die Augen geschlossen.
Gisela genoss es genau wie er selbst es genoss, dass Gisela beschäftigt war. Solange Tims Hand ihm durch die Haare strich, er seinen Herzschlag hören und sich anschmiegen konnte, war er ganz allein. Niemand schrie dazwischen, wenn er darüber nachdachte, wie sehr er Tim liebte. Ihm entwichen keine Schimpfwörter, solange Tim ihn nicht aus den Gedanken riss und es gab keine hektischen, ungewollten Bewegungen, die ihn aus der Ruhe brachten.

Für Jan hatte Zeit für ihn selbst eben eine andere Bedeutung. Es bedeutete die Ruhe in seinem Kopf, die nur dann auftrat, wenn er nah an Tim war und mit ihm kuschelte. Nur in diesem Moment konnte er wirklich allein mit sich selbst über Dinge diskutieren, über sein Leben philosophieren und sich Gedanke darüber machen, womit er das alles verdient hatte. Warum ausgerechnet er seinen Kopf mit Gisela teilen musste, aber auch wie es dazu gekommen war, dass er so einen wundervollen Menschen wie Tim es war kennenlernen durfte. Er liebte Tim mehr als alles andere und manchmal hatte er das Gefühl, dass dies eine der wenigen Sachen war, wo Jan mit Giselas Gefühlen übereinstimmte. Die Liebe zu Tim teilten sie beide, nur drückten sie es unterschiedlich aus. Gisela druch stummes Genießen seiner Nähe und Jan, indem er immer wieder seine Nähe aufsuchte.
Tim war sein Ruhepol, sein ein und alles, der einzige, der ihn ohne Vorbehalte so akzeptierte wie er eben war. Mit Gisela, mit allen Ticks, allen Macken und allen Eigenheiten. Ohne ihn wäre Jans Welt eine ganz andere, grauere. Er würde sich einsam fühlen, obwohl er nie allein war, aber Gisela war eben doch anders als menschliche Gesellschaft. Sie war kein ganzer Mensch, nur Teil von ihm und selbst dieser Teil sehnte sich nach Tims Nähe, unaufhörlich, jeden Tag. Und er hatte das Glück, dass Tim bereit war, ihm diese Nähe zu schenken, jeden Tag.

"Ich liebe dich, Tim", murmelte er leise an Tims Schulter.
"Ich euch auch", erwiderte dieser dann ebenso leise, das Lächeln konnte Jan aus seiner Stimme heraushören und gleich darauf flüsterte eine dritte Stimme in seinem Kopf. "Ich dich auch, Tim."

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