in between worlds - Zwischen den Welten (Bergzone)

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Von hier oben sah alles so viel anders aus, als von dort unten. Grauer, trostloser und dennoch so viel beruhigender. Es fehlte die Hektik, die lauten Stimmen und die grellen Farben, das völlige Durcheinander der wuselnden Menschenmassen.
Niemand rauscht an ihm vorbei, das Handy ans Ohr gedrückt, in der anderen Hand eine Aktentasche und der feine Anzug völlig zerknittert von den unbequemen Sitzen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Kein Kind grinste ihn stolz mit einer Zahnlücke entgegen und hielt seine Eiswaffel fest umklammert, keine ältere Dame stand irgendwo auf dem Balkon und schimpfte über die heutige Jugend kein bärtiger Mann eilte ihm entgegen, dobald er nach Hause kam, um ihm einen Kuss aufzudrücken.
Stattdessen flogen geisterhafte Gestalten umher, scheinbar ziellos irrten sie durch die unendlich Weite und wann immer sie ihn passierten, so fühlte er nichts, denn diese Gestalten waren nichts als leere Hüllen.

Im Gegensatz zu ihm besaßen sie keinen Körper mehr und waren nicht für die Ewigkeit geschaffen, nahmen an keinem seiner Ausflüge nach unten Teil. Die trat er sowieso immer alleine an und jedes mal, wenn er zurückkehrte, umschwirrte ihn eine weitere blassgraue Gestalt ohne jedes Leben.
Er hasste es, dass er immer wieder hinab geschickt wurde und das Elend der Menschen ansah, die ihre letzte Reiese anzutreten hatten, für die es keine Rettung und keinen Ausweg mehr gab. Er konnte kaum etwas dafür tun, nur sein bestes versuchen, um die letzten Minuten so erträglich wie möglich zu machen und dafür zu sorgen, dass wenigstens das, was nach ihrem Tod übrig blieb, an sicheren Ort zu bringen.

Eine weitere Silhouette sauste an ihm vorbei und viel einer zweiten in die Arme, doch für Tim blieb die Welt geräuschlos, er verstand keines ihrer Worte, sah nur, sie sich ihre Lippen bewegten und er wusste, dass sie ihn überhaupt nicht sahen. Für sie war er nicht da, es gab ihn nicht und ihm selbst war es niemals möglich, mit ihnen zu kommunizieren. Ein Engel hatte die Macht, die Seelen der Verstorbenen in den Himmel zu bringen, doch durfte er die Welt der Lebenden nicht verlassen und so blieben ihm die Emotionen und Gespräche der Verstorbenen verborgen.

Für Tim war der Tod etwas Alltägliches geworden, in den letzten Jahrhunderten hatte er sich daran gewöhnt, dass es Jahre gab, in denen mehr Tote kamen, Tage, an denen sie nichtmal mehr schnell genug waren, um jeden einzeln zu geleiten und Tage, an denen hier oben Ruhe einkehrte. Er hatte den gabzen Tag nichts anderes getan, als hier oben herumzuschweben, die weißen gefiederten Flügel weit aufgespannt, obwohl er auch ohne sie problemlos in der Luft verweilen konnte.
Erst mit Anbruch der Abenddämmerung sah er ein schwaches Leuchten an seinen Flügeln und als er sich umdrehte, sauste eine winzige Lichtgestalt vor ihm zur Erde hinab. Die Flügel anwinkelnd stürzte Tim ihr hinterher durch die helle Wolkendecke in die Tiefe und sofort prasselten unzählige Eindrücke auf ihn ein. Das laute Brausen eines Sturms, tiefes Donnergrollen, Autos, unzählige Stimmen, flackernde Lichter und die von Blitzen hell erleuchteten Hochhäuser der Stadt.

Bald war die Luft erfüllt von Schluchzern, panischen Stimmen und lauten Sirenen. Hektische Schritte sausten an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen, während er elegant landete und um ein Auto herumlief.
Er beeilte sich nicht, wozu auch? Der Tod weilte ewig und die letzten Sekunden eines Lebenden würden genau dann anbrechen, wenn er neben ihm eintraf, wie jedes mal. Solange der Mensch nicht jemanden an seiner Seite hatte, der ihn geleitete, hielt der Tod seine hungrigen Krallenfinger noch einen Moment zurück, wenn gleich seine Geduld nicht strapaziert werden sollte.

Als er sich niederkniete, starrte er in ein paar dunkler Augen, lächelte leicht und breitete die Flügel aus, damit der bärtige Mann ihm trotz der blendenden Straßenlaternen ihm ins Gesicht sehen konnte.
Einen Moment lang musterte er das schöne Gesicht, die kantige Nase, die kleinen Lachfalten und die tiefschwarzen Haare, dann griff er vorsichtig nach der Hand des Sterbenden.
"Dominik, deine Zeit ist gekommen, die Erde zu verlassen. Komm mit mir", flüsterte er sanft, den Blick noch immer starr auf die Augen gerichtet, die in einer Mischung aus Angst, Schock und Unglauben anstarrten.
Er wagte es nicht auch nur einen Blick auf die Schusswunden in Brust und Bauch zu richten, der Geruch von Blut alleinr reichte aus, um Übelkeit in ihm aufseigen zu lassen.
"Steh auf, Dominik", wiederholte er, die Stimme ruhig und freundlich, aber er zog etwas bestimmter an seiner Hand.
Ganz langsam beobachtete er, wie sich aus der fleischigen, blutüberströmten Hand eine zweite Hand ablöste, viel blasser und schwach durchsichtig. Dominik sah noch immer zu ihm, die Atmung flach und viel zu schnell, dann plötzlich nichts mehr. Kein Heben und Senken der Brust, kein rauschendes Blut, kein Herzschlag.
Während sich seine Seele als blasses Abbild seiner Selbst aus seinem eigenen Körper erhob, noch immer von Tims Hand geführt, entspannte er sich langsam. Die Schmerzen hatten aufgehört, die Todesangst war vorbei und die Gegenwart des Engels - so absurd es klang, Kedos war inzwischen sicher, dass es sich um einen handelte - hatte etwas seltsam beruhigendes.

Sobald er stand, erhob Tim sich geräuchlos in die Lüfte und die fahle Gestalt folgte ihm widerstandslos an den Ärzten vorbei, immer höher über die Stadt, bis irgendwann nur noch die Lichter zu sehen waren und der Lärm langsam verstummte.
"Bin ich…bin ich…tot?"
"Ja, Dominik."
"Ich…was ist mit meiner Familie? Meinen Freunden?!"
"Sie werden irgendwann zu dir kommen, Dominik", erwiderte Tim leise und lächelte sanft. "Komm jetzt."
Noch weiter stiegen sie nach oben, bis sie endlich die Wolkendecke durchbrachen und Tim Dominik langsam auf dem unsichtbaren Boden absetzte.
Sobald die Seele einen Fuß auf den ewigen Boden setzte, glitt seine Hand durch Tims hindurch und schon schien er vergessen zu haben, dass es den Engel gab.
Währen Dominik von der Welt der Lebenden ins Reich der Toten gekommen war, würde Tim weiterhin zwischen den Welten umherpendeln.

Mit einem milden, etwas traurigen Lächeln sah er an, wie Dominik ohne Umschweife auf einer Silhouette in die Arme fiel, dann verblasste auch seine Gestalt immer mehr, bis sie für Tim nicht mehr von all den anderen zu unterscheiden war.

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