KAPITEL 20 | SYDNEY

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EIGENTLICH HATTE PETER Recht. Ich habe wirklich ein bisschen Angst vor Friedhöfen.

Aber mir kann auch niemand erzählen, Friedhöfe wären nicht unheimlich. Ständig habe ich das Gefühl, jemand würde mich verfolgen, während ich an den Grabsteinen vorbeigehe, wobei die kleinen Kieselsteine unter meinen Füßen laute Geräusche machen. Ich will gerade Deans Namen rufen, als ich eine alte Frau entdecke, die vor einem Grabstein kniet und Blumen darauf verteilt. Wenn ich jetzt noch mehr Lärm machen würde als nur mit meinen bloßen Schritten, dann wäre das ziemlich respektlos. Die Frau trauert offensichtlich sehr um die Person, denn sie versteckt jetzt ihr Gesicht in den Händen, während ihre Schultern zu beben anfangen.

Mich überkommt das starke Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, aber ich weiß nicht, ob sie das wirklich will, da sie eher den Eindruck macht, als wäre sie gerne alleine. Also reiße ich den Blick von der Frau los und laufe weiter. Von Dean ist weit und breit keine Spur zu sehen, aber ich hätte jetzt auch nicht erwartet, dass er hinter einem Grabstein hervorspringt und »Hier bin ich!« ruft, sondern sich höchstwahrscheinlich ein wenig besser versteckt. Fast hätte ich bei dieser Vorstellung lachen müssen, aber zum Glück nur fast. Immerhin wäre das noch respektloser den Toten gegenüber gewesen.

Von meinen Familienangehörigen oder meinen Freunden ist noch nie jemand gestorben, von daher bin ich noch nie auf Friedhöfen gewesen. Aber es schnürt mir bei dem Gedanken, jemand, der mir viel bedeutet, könnte sterben, beinahe die Kehle zu, weil ich weiß, dass ich früher oder später bestimmt auf eine Beerdigung und damit auf einen Friedhof gehen muss. Ich male mir plötzlich im Kopf haarklein die Beerdigung aus und merke überhaupt nicht, dass ich am Ende des Friedhofs angelangt bin. Deprimiert streiche ich mir die Haare aus dem Gesicht, weil Dean entweder überhaupt nicht hier ist und Peter mich schlichtweg hereingelegt hat oder weil Dean mich offensichtlich nicht sehen will und sich viel zu gut versteckt.

»Dean?«, flüstere ich, bin aber trotzdem so laut, als würde ich normal sprechen.

Ich bekomme außer einem krähenden Raben keine Antwort.

Unheimlich.

Wieder versuche ich es. »Dean, bist du hier?«

Als ich den Blick über den Friedhof schweifen lasse und bei der alten Frau hängen bleibe, wäre ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Denn sie sieht mich so an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Vielleicht hat sie ja Recht. Was mache ich hier eigentlich? Ich suche jemanden, der offensichtlich nicht gefunden werden will und mache mich dabei auch noch vollkommen lächerlich. Sogar auf einen Friedhof bin ich seinetwegen gegangen und den konnte ich bis jetzt neunzehn Jahre lang meiden. Ihm liegt offensichtlich nicht so viel an mir und damit muss ich mich einfach abfinden, auch wenn ─

»Curly?«

Ich wirbele herum und fast wären mir bei Deans Anblick Tränen in die Augen geschossen. Er sieht ein wenig mitgenommen und müde aus, aber das Grübchen-Grinsen ist noch gleich. An seinem schwarzen Kapuzenpullover hängen ein paar Blätter und Äste, die mir zeigen, dass er offensichtlich draußen übernachtet hat. Auch seine Haare sind völlig durcheinander, was ihm in diesem Moment auffällt, denn er fährt sich immer noch lächelnd durch diese. Ich will nicht lügen ─ er sieht schlimm aus. Und trotzdem kribbelt mein Bauch wie verrückt, als ich auf ihn zu renne und mich in seine Arme werfe, die sich vorher bereitwillig öffnen.

Er riecht nach Wald und Laub und trotzdem sauge ich den Geruch in mich auf, weil ich mir in den letzten zwei Tagen nichts anderes gewünscht habe, als ihn zu sehen und ─ so seltsam es auch klingt ─ zu riechen. Wir stehen mit Sicherheit mehrere Minuten in dieser Position da, dann erst rücke ich nur so weit von ihm ab, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann.

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt