KAPITEL 48 | DEAN

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ES IST SELTSAM dieses Mal auf der anderen Seite der dicken Glastrennwand zu sitzen.

Denn vor so ziemlich genau drei Wochen bin ich an Kolins Stelle gewesen, als Sydney mir von ihren Date-Plänen mit ihm erzählt hat. Es kommt mir so vor, als wäre das Ewigkeiten her, weil die Zeit seit meinem Aufenthalt in Rikers Island die wahrscheinlich schönste Zeit gewesen ist, die ich jemals hatte. Und das liegt nicht nur an Sydney, auch wenn sie einen riesengroßen Anteil dazu beigetragen hat. Ich rede auch von Peter und Bronwyn, die ich vor ein paar Monaten noch nicht einmal gekannt habe und die jetzt zu meinen engsten Freunden gehören.

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich gut dabei fühle, Kolin im Gefängnis zu sehen. Aber das ist leider nicht der Fall.

Was ist nur los mit mir? Wo bleibt mein Hochmut und siegreiches Gefühl? Warum kann ich ihn nicht angrinsen und ihm irgendwelche fiesen Worte in den Rachen drücken, um ihm das Leben noch schwerer zu machen?

Weil ich Mitleid mit ihm habe. Ich weiß, dass er es genau wie Xander und Gavin verdient hat, dort zu sitzen und mich wütend anzuschauen, aber trotzdem lässt mich diese Tatsache nicht glücklicher sein. Wenn, dann fühle ich mich bloß sicherer, als wenn er frei herumläuft.

Kolin sieht scheiße aus, um es noch nett auszudrücken. Sein blondes Haar ist viel zu lang und hängt ihm ungewaschen in die Stirn, auf der ein feiner Schweißfilm glänzt. Die blauen Augen sind trüb und blass. Jegliche Freude ist ihm aus dem Gesicht gewischt, stattdessen ist nur blanke Wut darin zu erkennen, die einzig und allein auf mich gerichtet ist. Er trägt die typisch orangene Gefängniskleidung, die viel zu groß für seine schmalen Schultern ist und im Kontrast zu seinen eingefallenen, geröteten Wangen steht. Mir fällt außerdem auf, dass er mit einer Platzwunde an der rechten Wange versehrt ist und ich frage mich unwillkürlich, von wem er sie bekommen hat.

Ich schlucke schwer und rufe die Worte aus meinem Gedächtnis hervor, die Sydney und ich auf der Autofahrt durchgegangen sind. Es ist nicht schwer zu wissen, was ich ihm sagen will, aber es ist auch nicht leicht auszusprechen, was er hören muss.

Kopfschüttelnd fege ich meine Gedanken weg, da sie mich nur unnötig verwirren.

Kolin greift währenddessen langsam nach dem Hörer, was ich ihm nachtue. »Dean Walker«, begrüßt er mich mit neutralem Unterton. »Was genau verschafft mir die Ehre?«

»Ach, keine Ahnung«, entgegne ich gespielt ahnungslos. »Vielleicht erinnerst du dich noch daran, dass du mir aus irgendwelchen psychopathischen Gründen einen Mord anhängen wolltest.«

»Daran erinnere ich mich tatsächlich.« Seine Stimme ist nach wie vor neutral und lässt mich trotzdem ein wenig erschaudern. »Na los, mach schon. Fang mit irgendeiner Schimpftirade an oder drohe mir meinetwegen, wenn du willst. Glaub mir, ich bin auf alles gefasst.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Sydney war ja noch gar nicht hier und vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du auf das Gespräch mit ihr nicht gefasst bist.« Das Lächeln auf meinen Lippen ist nicht einmal gespielt.

Kolin zeigt immer noch keine Gefühlsregung außer vielleicht Wut, als er sagt: »Was genau willst du von mir, wenn du nicht vorhast, mir eine Standpauke zu halten?«

»Wie wäre es zur Abwechslung einmal mit der Wahrheit?« Immerhin hat er mir bisher nur zu nichts führende Worte, miese Taten und zugegebenermaßen ziemlich beeindruckende Drohungen gegeben.

Er schüttelt fast schon enttäuscht den Kopf. »Und ich dachte, du wirst mir jetzt die Hölle heißmachen. Aber natürlich würde das der ach so tolle und stets perfekte Dean Walker niemals tun, nicht wahr? Mir kannst du jedenfalls nichts vormachen. Ich weiß genau, was für ein Mensch du bist und was für Absichten zu besitzt.«

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt