EINS

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Ich bin Lucie. Ungefähr 16 Jahre alt, dunkelblonde Haare, blaue Augen. Keine Besonderheiten. Das ist es, was ich sehe, wenn ich in den Spiegel schaue. Mich.

„Lucie?"
Ja, Maria? Was ist denn?
„Komm, wir verpassen den Bus."
Ich weiß.
„Wir wollen doch nicht zu spät kommen! Am ersten Schultag! Und dann auch noch in der neuen Schule."
Sie zieht die Luft laut durch die Zähne ein.
„Ich bin so aufgeregt..."
Ich doch auch Maria, ich doch auch. Aber sie merkt es nicht, weil ich es nicht zeige. Ich glaube trotzdem dass sie es weiß.

An dieser Stelle sollte ich wohl etwas erklären.
Neue Schule? Die Schule an der ich bis vor sechs Wochen noch war, ist geschlossen worden. Weil sie zu klein war. Kann man sich das vorstellen? Ich vorher eigentlich nicht. Wobei: Es gab nur eine Klasse pro Jahrgang, 20 Schüler in jeder Klasse, von der 5. bis zur 12. also etwa 160 Schüler. Na gut. Jetzt ist mein Schulweg länger, circa eine halbe Stunde mit dem Bus. Früher konnten ich und Maria zu Fuß gehen.
Wer ist Maria? Auch 16 Jahre alt, mit hellbraunen Haare und dunkelbraunen Augen. Meine beste Freundin. Sie weiß fast alles, versteht mich, ohne dass ich etwas sage. Das ist wichtig für mich. Außerdem kann sie die Gebärdensprache anwenden und lesen.
Noch andere Fragen, die es zu klären gibt? Bisher nicht, glaube ich. Vielleicht klären sie sich ja auch bald. Ich habe jedenfalls keine Zeit mehr genauer darüber nachzudenken, weil Maria und ich jetzt an der Bushaltestelle sind. Der Bus auch, wir steigen ein, zeigen die Jahrestickets die wir von der neuen Schule bekommen haben und setzen uns in eine freie Zweierbank ziemlich genau in der Mitte des Fahrzeuges.

„Was haben wir heute?"
Sie ist sichtlich nervös, dreht die Riemen ihrer Tasche in den Fingern herum. Ich hole den Stundenplan aus meinem Rucksack. Doppelstunde Englisch, Deutsch, Kunst, Wirtschaft, Bio. Ich halte ihr den Stundenplan hin.
„Englisch?"
Maria ist schlecht in Englisch. Ich nicht, weil ich auch manchmal Bücher auf Englisch lese. Und Filme schaue ich nie auf Deutsch, da Englisch bei den meisten die Originalsprache ist. Das klingt dann einfach besser.
„Ich glaub es ja nicht... ob wir wohl schon Unterricht machen?"
Auf dem Rundschreiben stand, dass die ersten beiden Stunden vom Klassenleiter genutzt werden, um alles zu klären.
„Ach so. Na dann."
Der Junge vor uns beobachtet uns in der Fensterscheibe. Er hat hellbraune, kurz geschnittene Haare, aber etwas dunkler als Marias und seine Augen haben exakt die selbe Farbe. Wenn er uns nicht so unverhohlen neugierig betrachten würde, könnte man ihn vermutlich sympathisch finden.
Und ich glaube nicht, dass wir am ersten Schultag wirklich schon unterrichtet werden. Erst muss alles organisiert werden und so.
„Jap. Hast mal wieder Recht."
Meine Sitznachbarin öffnet ihre Tasche und beginnt zu schauen, ob sie alles dabei hat. Ich spiele gedankenverloren an dem Anhänger der kleinen Kette herum, die ich immer um den Hals trage.
Der Junge vor uns dreht sich um. Was für eine Überraschung.
„Hey."
Ich wette er hat unserem Gespräch gelauscht. Nein, ich weiß es.
Er redet eher zu Maria als zu mir, aber das bin ich gewohnt. So ist es immer oder meistens zumindest bei Fremden.
„Ich heiße Erik. Ihr seid neu, oder? Ich habe gesehen wie ihr euch unterhalten habt. Bist du stumm?"
Die letzte Frage war an mich gerichtet. Aber weil er es sehr nett gesagt hat, bin ich bereit zu antworten. Viele Leute fragen Maria dann sowas wie: Ist sie stumm? Ist die da stumm? Kann deine Freundin nicht sprechen?
Aber Erik hat es aufrichtig gemeint. Mehr neugierig als verächtlich.
Ja bin ich.
„Lucie sagt: Ja bin ich. Ich heiße außerdem Maria und das ist Lucie."
„Freut mich. Seid ihr von der Schule, die aufgelöst wurde? Die kleine, hier auf dem Land?"
Maria nickt.
Kommst du auch in die zehnte Klasse?
Maria übersetzt.
„Ja. Ich bin ab diesem Schuljahr in der 10b. Ihr?"
Also sind wir in der selben Klasse.
„Lucie sagt: Also sind wir in der selben Klasse."
„Ich könnte euch vielleicht den Weg zum Sekretariat oder zum Klassenzimmer zeigen, wenn ihr das wollt."
„Gerne! Wir müssen zuerst zum Sekretariat um uns anzumelden."
Während Maria und Erik sich unterhalten, schaue ich aus dem Fenster. Die hügelige, von Wäldern bedeckte Landschaft ruckelt vorüber. Immer näher an die neue Schule heran.

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