ELF

424 16 0
                                    

Was jetzt? Ich stehe im Regen neben meinem Fahrrad, mitten im tiefsten Wald. Mein Blick wandert nach oben. Dort strahlt der flackernde Schein einer Kerze durch die Fenster zehn Meter über mir Wärme und Geborgenheit aus. Nelio hat, kurz bevor ich aus der Tür war, eine Kerze in einer altmodischen Laterne angezündet und auf den Tisch gestellt. Ich schüttele mich, Regentropfen fliegen von meiner Jacke auf die braunen Blätter am Boden und mischen sich mit dem Schlamm. Nicht besonders freundlich von diesem Jungen, mich im strömenden Regen einfach so herauszuwerfen. Plötzlich überkommt mich ein Gefühl der Hilflosigkeit, etwas, was ich so stark das letzte Mal vor zweieinhalb Jahren gespürt habe. Ich kann mich nicht erinnern. Und die Leute, die es können, lügen mich an. Wenn Nico gelogen hat, ist alles,was ich die letzten Tage gemacht habe, sinnlos gewesen. Womöglich hat dieser Nelio das Baumhaus wirklich selbst gebaut.

Ich schlittere über Wurzeln. Matsch spritzt auf und der Regen durchnässt mich bis auf die Knochen. Ich bekomme die Gedanken einfach nicht aus dem Kopf. Ich kann nicht akzeptieren, dass alles was Nico mir bisher erzählt hat, gelogen war. Er hatte zwar keine Fotos oder sonstige Beweise, aber - doch! Den Brief! Den Brief, den ich ihm angeblich kurz vor meinem Verschwinden geschrieben habe! Das war meine Schrift. Ungefähr zumindest. Und habe ich nicht in der Anrede Hallo Nico, Nico oder so etwas geschrieben? Der Brief liegt zuhause in meiner Schreibtischschublade. Ich muss nachsehen. Aber erst wenn ich aus diesem Wald draußen bin. Achtung, der Pfad macht eine Kurve! Ich ziehe den Lenker meines Fahrrads nach links und wäre fast hingefallen. Ich hasse Regen.

Es ist etwas passiert. Damit fängt der Brief an, den ich - oder jemand namens Mia, ich bin mir nicht mehr sicher - verfasst hat. Kein Adressat. Kein Hinweis. Ich muss mich vergewissern, dass Nico nicht lügt. Oder eben schon. Irgendwer wird ihn, beziehungsweise uns doch gesehen haben... früher. Mir fällt niemand ein, natürlich nicht. Ich seufze und lasse mich auf mein Bett fallen. Mein Handy klingelt. Es ist Maria.
„Hallo Lucie. Wo warst du heute nach der Schule, ich hab mehrmals versucht dich anzurufen!"
Ich stelle mein Handy so auf den Tisch, sodass Maria mich sehen kann.
Ich war im Wald, bei dem Baumhaus.
„Cool. Hast du mehr herausgefunden?"
Nein. Dort war ein Junge namens Nelio, der behauptet hat, er habe das Baumhaus gebaut.
„Oh. Glaubst du, dass das stimmt?"
Ich weiß nicht.
„Hm. Wollen wir einen Gruppen-Videoanruf machen? Also mit Kathi und Diana?"
Ja können wir machen.
„Ich füge sie hinzu... warte kurz."
Maria tippt auf ihrem Bildschirm herum und kurz darauf erscheinen die Profilbilder von Kathi und Diana. Kathi nimmt sofort an, bei Diana dauert es ein bisschen.
„Dann schieß mal los, Lucie! Bin schon gespannt, was ihr gestern so gemacht habt.", grinst Diana als Begrüßung.
Ich glaube um ehrlich zu sein, ist es besser wenn Maria erzählt. Sie muss sowieso alles übersetzen was ich euch sagen will.
„Stimmt. Also Lucie meint, dass ich alles erzählen soll weil ich sowieso ihre Übersetzerin bin."
„Gute Idee. Lucie, du kannst ja immer wenn noch ein Detail fehlt das hinzufügen."
Mach ich.
„Macht sie. Also, ich fang jetzt an. Nico hat Lucie gestern etwas über ihre Vergangenheit erzählt. Wie ihr wisst, wurde sie vor zweieinhalb Jahren bewusstlos am Waldrand gefunden. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern und auch nicht sprechen."
Irgendwie habe ich das Gefühl, ich müsste etwas korrigieren, aber ich weiß nicht was.
„Dann hat ihre jetzige Familie sie adoptiert."
Vor meiner Zimmertüre höre ich ein Geräusch, etwas wie ein kratzen. Martin? Egal, ich kann ihn jetzt nicht hereinlassen.
„Und jetzt hat dieser Nico ihr gesagt, dass er - bevor sie ihr Gedächtnis verloren hat - ihr bester Freund war und dass sie im Wald ein Baumhaus gebaut hatten wo sie schon seit sie sich kannten spielten. Seit sechs Jahren also, glaube ich."

Ich muss Maria kein einziges Mal ergänzen. Sie macht das wirklich gut und ich habe sogar das Gefühl, als lausche ich irgendeiner Geschichte, die sie erzählt. Ab und zu höre ich noch dieses Kratzen vor der Tür, als würde jemand (ein Hund vielleicht?) sich anders hinsetzen. Während Maria erzählt, zupfe ich immer wieder an meiner Kette, die wie jeden Tag um meinen Hals hängt.
„Sag mal Lucie, was hast du da eigentlich für eine Kette? Also was ist das für ein Anhänger?" fragt Diana neugierig als Maria fertig ist.
Diese Kette ist das einzige was ich von meiner Vergangenheit habe, vielleicht ist sie von meinen Eltern.
Während Maria übersetzt halte ich den Anhänger so vor mein Handy, dass die anderen ihn sehen können.
„Weißt du auch was das darstellen soll?"
Nein... sieht irgendwie aus wie ein Teil aus einem Auto oder so. Es ist aus Eisen.
Das Teil baumelt lose von dem Lederband das ich in der Hand halte. Es hat am Ende einen drei Zentimeter langen Stab herausstehen, an dessen Ende eine circa fünf Millimeter runde Öse ist, wie bei einem altmodischen Schlüssel. Durch diese Öse wurde das Band hindurchgefädelt. Vorne an dem Stab ist aber ein rechteckiges Eisenstück, aus dem noch einige kleinere Quader herausstehen. Alles an diesem groben Rechteck ist von feinen, welligen Rillen und vereinzelten eingravierten Punkten durchzogen.
„Weiß man denn, von was es stammt?"
Nein. Es wurde untersucht, aber es scheint eine Sonderanfertigung zu sein, ein selbst gemachter Glücksbringer vielleicht.
Wir unterhalten uns dann noch ein bisschen über belanglose Sachen (Kathi: „Nico ist soooo süß, kannst du ihn mir mal vorstellen oder so?", Maria: „Ich will mir eine neue Schultasche kaufen, steht mir eher dunkelblau oder dunkelrot?", Diana: „Wir müssen uns unbedingt mal treffen oder so, zum Beispiel schwimmen gehen!" und ich: Ganz genau! Du machst das richtig! Und jetzt mach nochmal und achte auf den kleinen Finger: Ich bin sehr dumm. Maria hat sich gekringelt vor Lachen, als Kathi und Diana beide Ich bin sehr dumm mit ihren Händen machen. Natürlich ohne, dass sie wissen was das überhaupt bedeutet.

STUMMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt