ZWÖLF

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Ich muss mit dir reden.
„Okay. Was ist?"
Wir stehen etwas abseits von den anderen Schülern auf dem Pausenhof. Keiner außer meinen Freundinnen beachtet uns und die versuchen auch möglichst unauffällig zu wirken. Immerhin denkt Nico ja noch, dass nur ich von all dem was er erzählt hat weiß.
Ich war gestern am Baumhaus. Dann kam ein Junge, Nelio, der behauptet hat ihm gehöre das Haus weil er es gebaut habe. Stimmt das, kennst du ihn?
„Was? Nein, das stimmt natürlich nicht! Aber ja, ich kenne diesen Nelio. Nachdem wir beide eben lange nicht mehr dort waren, hat er das Baumhaus anscheinend für seines deklariert. Jetzt tut er so, als hätte er es gebaut. Ich habe keine Ahnung warum er das macht, aber Lucie, du musst mir glauben, alles was ich dir erzählt habe, stimmt!"
Ich glaube dir. Aber was sollen wir jetzt machen?
„Einfach erstmal nicht mehr zum Baumhaus gehen, würde ich sagen. Wenn wir uns wirklich wieder dort treffen wollen wir früher, oder es als Standort für die Suche nach deinen Eltern, deiner Familie, deiner Vergangenheit nutzen wollen... wir können Nelio natürlich nicht einfach so sagen, dass er jetzt gehen muss. Es ist ja immerhin ein öffentlicher Wald, nur weil wir ein Baumhaus gebaut haben, heißt das nicht dass es uns gehört. Aber es gehört eben auch nicht Nelio..."
Wir können einfach noch überlegen, was wir wegen ihm machen. Man kann ja auch einen Kompromiss machen, wann wer von uns dort ist oder so.
„Ich weiß nicht... mal sehen. Geh erstmal nicht zum Baumhaus, okay?"
Okay.
Es gongt. Die Pause ist aus. Ich schlendere wieder zu meinen Freundinnen, die mich erwartungsvoll ansehen.
Er sagt die Wahrheit. Dieser Nelio tut anscheinend so, als würde ihm das was er findet gehören.
Maria übersetzt meine Aussage für die anderen.
„Hm."
Diana packt ihre Brotzeitbox wieder in ihre Tasche und holt stattdessen ihr Chemieheft heraus.
„Ich glaube wir werden abgefragt, also einer zumindest."
„Was? Wir hatten doch gerade mal eine einzige Chemiestunde!"
„Und wir haben schon Stoff gemacht..."
„Oh Mist, kann ich mitlernen?"
„Klar." Diana schlägt das Heft auf und Maria und sie beugen sich darüber. Ich habe mir die Sachen schon zuhause angeschaut, es ist nicht besonders schwer.
„Hey.", grinst Kathi mich an „Ich glaube auch, dass Nico die Wahrheit sagt."
Ich nickte nur, denn Maria ist ja gerade verzweifelt am lernen.
„Und, hast du schon eine Idee wie du weitermachen willst beim Herausfinden was damals passiert ist?"
Ich zucke mit den Schultern. Wenigstens stellt Kathi solche Fragen, die ich mit Nicken, Kopfschütteln oder Schulterzucken beantworten kann. Ich will Maria jetzt ja auch nicht unnötig stören.
„Und wirst du wieder was mit Nico machen? Am Baumhaus?"
Ich würde auf die erste Frage mit vielleicht und auf die zweite mit nein antworten. Also halte ich einen Finger hoch und zucke mit den Schultern. Dann halte ich zwei Finger hoch und schüttele den Kopf.
„Heißt das... du machst vielleicht was mit Nico, gehst aber nicht zum Baumhaus?"
Ich nicke.
Ja.
„Heißt Ja Ja?"
Ich nicke wieder.
Ja.
„Okay. Warum geht ihr nicht zum Baumhaus?"
Na super. Was soll ich jetzt antworten?
In dem Moment als ich mich entscheide Maria anzutippen, werden Kathi und ich im Strom der ins Schulgebäude gehenden Schüler auseinander getrieben. Na gut, wir können uns ja im Klassenzimmer weiter unterhalten. Und es wäre wirklich sinnvoll, wenn Kathi und Diana auch Gebärdensprache verstehen könnten.

Es ist etwas passiert, meine Eltern verheimlichen mir etwas.

Ich sitze an meinem Schreibtisch, lese den Brief, von dem ich mich nicht mehr erinnere ihn geschrieben zu haben wieder und wieder durch.

Ich weiß nicht, was es ist. Heute habe ich zufälligerweise, als ich in Papas Arbeitszimmer nach etwas gesucht habe, den Computer angemacht. Weil er keine Passwort eingerichtet hat, ist er sofort angegangen und eine ungelesene Mail wurde angezeigt.

Keine Hinweise auf meine Eltern. Nur, dass mein Vater einen Computer und ein Arbeitszimmer hatte. Hat er von zuhause gearbeitet?

Ich habe sie geöffnet, ich dachte sie wäre von meiner Tante. Aber sie war von -

Halt. Tante, ich habe eine Tante! Wo sie wohl ist? Sie muss mich doch vermissen, ihre Nichte... wenn ich sie finden könnte, vielleicht auch noch meinen Onkel oder andere Verwandte, meine Großeltern oder Cousine und Cousin wenn ich denn welche habe, wäre ich schon viel weiter. Aber... es sind schon bald drei Jahre vergangen, da kann so allerhand passieren. Ich seufze. Ich muss doch noch einmal zum Baumhaus, das weiß ich jetzt. Vielleicht gibt es dort irgendwelche Hinweise, Briefe, ein Tagebuch, irgendetwas von mir. Ich stehe auf und lege den Brief auf den Schreibtisch.

Als ich fünfzehn Minuten später mit meinem Fahrrad an der Bushaltestelle stehe, fängt es wieder an zu nieseln. Na super, ich wette sobald ich im Wald bin schüttet es wieder wie aus Eimern. Der Bus biegt um die Ecke und hält, ich steige ein. Kurz bevor die Türen schließen, kommt noch ein kleiner Junge ebenfalls mit dem Fahrrad angebraust und steigt auch ein. Er scheint so alt zu sein wie Janosch. Vielleicht ist es einer von seinen Freunden? Das Gesicht des Jungen kann ich nicht erkennen, da er eine riesige Baseballkappe trägt, genau so eine wie auch mein Vater sie hat. Der Bus fährt an und der Junge der sein Fahrrad jetzt neben meinem in der Zone für Kinderwägen und Rollstühle geparkt hat, geht an mir vorbei in die hinterste Reihe.

Ich steige an der Haltestelle vor der Schule aus, genau wie fast alle anderen Leute aus dem Bus. Dieser ist während der Fahrt immer voller geworden, anscheinend wollen sie alle zum nahen Supermarkt. Auch der kleine Junge steigt aus, fährt aber in die Richtung der Neubausiedlung davon. Vermutlich besucht er einen Freund oder ist auf dem Weg nach Hause. Soweit ich weiß, ist Janosch noch nicht so selbstständig, denn wenn er mit jemanden spielen möchte der weiter weg wohnt, dann fährt meine Mutter ihn immer. Oder sie fahren zusammen mit dem Fahrrad oder gehen zu Fuß.

Der Wald ist - wie gestern - nass und matschig. Auch wenn es nicht schüttet, dieses Nieselregen-Wetter ist nicht besonders angenehm. Weil ich mehrmals fast hinfalle, steige ich schließlich ab und schiebe mein Fahrrad über den Pfad. Meine Schuhe sehen jetzt auch nicht mehr neu aus... Schließlich parke ich mein Fahrrad wieder unter dem Baumhaus und schaue nach oben. Kein Licht, wobei das nichts heißen muss, es ist ja noch nicht so spät. Hinter mir raschelt etwas. Ich drehe mich um. Ist das Nelio? Oder Nico? Nein, vermutlich war es nur ein Vogel. Wenn beispielsweise Amseln im Laub nach Würmern picken, hört sich das oft so an als würde jemand ganz vorsichtig und langsam laufen. Es raschelt wieder, genau so wie vorhin. Ich wende mich wieder dem Baumhaus zu. Zuerst nehme ich die Leiter aus ihrem Versteck und lehne diese dann an den untersten Ast. Wenigstens kann ich sicher sein, dass niemand oben ist, andererseits... wenn jemand unten vorbeikommt ist ihm klar, dass jemand oben ist oder war. Ich klettere hoch, die Äste sind rutschig und meine Schuhe auch, aber nach fünf Minuten - ich bin eher vorsichtig und deshalb auch etwas langsamer - bin ich da.

Niemand kommt und stört mich. Einmal habe ich das Gefühl, dass jemand zum Fenster hereinschaut, aber auf den zweiten Blick kann ich niemanden mehr sehen. Was ich finde? Nichts. Ich habe sogar in den Schachteln der Brettspiele geschaut, aber das einzige was ich jetzt habe, ist die Gewissheit, dass zwei Kinder mit dem Anfangsbuchstaben M und N hier gespielt haben. In einer kleinen Holzdose lagen nämlich ein paar alte Zettel auf denen Dinge standen wie:

Komme heute nicht, weil ich morgen einen Test schreibe.
Ich muss noch was lernen.
M.

Bring nächstes Mal dein Schnitzmesser mit!
Von N.

Wo warst du??? Ich habe drei Stunden gewartet!!!
Gruß, M.
PS: Ich habe ein neues Spiel mitgebracht. Es ist im Regal.

Morgen wieder um drei Uhr? Ich komme.
N.

Es ist keine zufriedenstellende Ausbeute, deshalb lasse ich die Zettel auch da. Was soll ich mit ihnen anfangen? Ich wusste sowieso schon, dass N. - also Nico - und M. - Mia, das bin dann wohl ich - zusammen hier gespielt haben.

Der Rückweg ist beschwerlich. Ich habe es nicht mehr geschafft, die Leiter wieder ins Versteck zu tragen, da der Regen (es schüttet, was für eine Überraschung) zu stark war. Okay, vielleicht hätte ich es geschafft, aber ich bin müde und erschöpft. Wenn Nelio morgen wieder kommt, dann fragt er sich, warum die Leiter noch am Baum lehnt. Egal. Ich schiebe das Fahrrad wieder und erwische gerade so noch den Bus. Sonst hätte ich eine halbe Stunde warten müssen.

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