ACHT

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Ich habe mich für heute krankmelden lassen. Noch vor der Schule, weshalb ich meinen Freundinnen nicht mehr Bescheid sagen konnte. Ich hoffe sie machen sich nicht allzu viel Sorgen.
Ich habe mit Mama per Videoanruf über Nicos Handy telefoniert, weil ich meines, wie fast immer zuhause vergessen habe. Nachdem ich ihr erklärt habe, dass ich jemanden getroffen habe, der vielleicht etwas über meine Vergangenheit weiß, hat sie sofort eingewilligt dass ich heute nicht in die Schule muss.

„Hier."
Nico zeigt nach oben, wir stehen unter einer großen Buche, mitten im Zauberwald. Ich schaue nach oben. Ungefähr zehn Meter über uns ist ein ziemlich großes Baumhaus. Eine Leiter ist nicht zu erkennen.
Und wie kommen wir jetzt da hoch?
„Ich war zwar schon sehr lange nicht mehr hier... aber wir hatten eine Leiter versteckt um auf die unteren Äste zu kommen. Ab da kann man recht leicht nach oben klettern."
Ich glaube nicht, dass ich je damit klarkommen werde, wenn er von uns oder mir in einer Vergangenheit redet, an die ich mich nicht erinnern kann.
Wo war diese Leiter denn versteckt?
„Unter einem der Bäume in der Nähe. Wir haben eine Grube gegraben die genau so lang ist wie die Leiter, also circa dreieinhalb Meter lang. Dann haben wir eine Plastikplane reingelegt und man konnte die Leiter - ohne dass sie morsch wurde - immer benutzen."
Wir fangen also an die Leiter zu suchen, indem wir unterhalb der umstehenden Bäume herumlaufen und mit den Schuhen im Laub herumfahren.
„Hier! Ich hab sie!"
Ich laufe zu Nico, der mit den Füßen noch einige Blätter von einer alten, grauen Plane wischt. Dann schlägt er diese zurück. Zwischen der Plane liegt die Leiter. Sie ist noch in einem erstaunlich guten Zustand, ein wenig bemoost und nur einige Käfer krabbeln erschrocken weg. Wir heben sie hoch (gar nicht so leicht) und lehnen sie dann an den untersten Ast der Buche, die das Baumhaus trägt. Ohne Leiter käme man hier wirklich niemals hoch. Der nächste Ast ist in drei Metern Höhe.
„Soll ich oder willst du zuerst?"
Will ich? Hier habe ich immerhin einen großen Teil meines früheren Lebens verbracht...
Ich gehe zuerst.
Langsam klettere ich die Leiter hoch, dann weiter über die Äste. Es geht komischerweise ganz leicht, jeder Griff, jeder Tritt sitzt. Ich habe keine Höhenangst, schaue aber trotzdem nicht nach unten. Schließlich bin ich da. Vor dem Baumhaus ist eine kleine „Terrasse" - mit einem „Zaun" umgrenzt, scheint sie um das ganze Haus zu führen wobei sie nicht immer gleich breit ist - darauf hieve ich mich erstmal um auf Nico zu warten. Der hat es anscheinend nicht ganz so einfach wie ich und muss bei jedem Ast überlegen, ob es der richtige ist.

Ich ziehe die quietschende Türe auf und schaue in das Dunkel des Baumhauses. Die Fensterläden und Fenster sind zu, nur durch Ritzen und Spalten im Holz fällt Licht hinein.
„Warte... ich mach schnell die Fensterläden auf, dann sieht man was."
Nico läuft über die Terrasse um das Holzhaus herum, entriegelt und öffnet dabei die Läden. Plötzlich strahlt helles Vormittagslicht hinein, jetzt sehe ich auch was innen ist. Es ist größer als es von außen aussieht. An jeder Seite ist ein Fenster, außer dort wo die Türe ist. Es riecht ein bisschen muffig. In der linken hinteren Ecke steht ein kleiner Tisch und davor zwei unterschiedliche Stühle. Auf den Stühlen liegt je ein buntes Kissen, auf dem Tisch steht eine Blumenvase ohne Blume. Hier war ja auch schon lange niemand mehr. In der rechten Ecke steht ein Sofa. Man sieht, dass es vom Sperrmüll oder vom Wertstoffhof genommen wurde, da es mit hellgelben Stoff mit rosa Blümchen bezogen ist. Außerdem hat es ein paar Risse und Flecken, genau wie die vielen verschiedenen Kissen und Decken darauf. Es ist nicht wirklich staubig, vermutlich weil es ja kein wirkliches Haus ist und an einigen Stellen Ritzen im Holz sind, wo kühle Luft eindringen kann. Der Holzboden wird fast ganz von einem Flickenteppich bedeckt. Ich mache ein paar Schritte in den Raum hinein, bis ich in der Mitte stehe. Links von der Eingangstüre steht ein schulterhohes Regal. Darin sind Spielsachen: Brettspiele, Bücher, Kuscheltiere, einige Steine, Schüsseln, schön geformte Holzstücke. Rechts vom Eingang hängen zwei Kleiderhaken. An einem hängt noch eine dunkelblaue Mütze.

Und... das haben wir gebaut?
„Ja. Wir haben sechs Jahre lang hier gespielt. Also in dieser Umgebung, aber wann genau wir dieses Baumhaus gebaut haben, weiß ich nicht mehr sicher."
Das würde dann natürlich auch erklären, warum da ein Sofa ist.
Wie haben wir das Sofa hochbekommen? Und den Tisch und die Stühle und das ganze?
„Mit Seilen glaube ich."
Wir sitzen auf der Terrasse vor dem Baumhaus. Ich weiß nicht, was ich hiervon halten soll. Ich bin mir jetzt sehr sicher, dass ich wirklich hier früher gespielt habe.
Ich will zu dem Haus, in dem ich früher gewohnt habe.
„Jetzt?"
Ja.
„Okay. Dann komm. Wir können in einer halben Stunde da sein. Wir haben das hier ja genau so gebaut, dass wir beide gleich weit laufen müssen."

Wir laufen durch den Wald. Nico geht voraus, folgt einem kleinem Trampelpfad. Ich tippe ihn an.
Wie seid ihr - sind wir damals hierher gekommen? Eine halbe Stunde gelaufen?
„Nein. Wir haben diese Pfade zu uns nach Hause getreten und sind dann mit dem Fahrrad gefahren."
Über Wurzeln und so auch?
„Ja. Mit Mountainbikes."
Ah. Nico hat anscheinend gerade keine Lust viel zu reden. Aber ich würde gerne mehr wissen.

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