ZEHN

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„Lucie, verdammt noch mal, wo warst du?"
Ich habe gerade die Haustür hinter mir geschlossen und blinzele in die helle Morgensonne. Maria kommt wutschnaubend auf mich zugerannt.
„Weißt du eigentlich was wir uns für Sorgen gemacht haben? Du bist einfach nicht zum Unterricht gekommen und auf meine Nachrichten hast du auch nicht reagiert!"
Ich habe mein Handy doch nie in der Schule dabei.
„Aber Frau Gärter hat gesagt, du hast dich krankmelden lassen! Dann warst du doch zuhause!"
Erst Nachmittags und... da hab ich wohl vergessen die Nachrichten zu checken. Sorry, ich hatte was anderes im Kopf.
„Warte mal... was anderes? Oh nein. Was hat dieser Nico dir erzählt?"
Eine Geschichte über die Vergangenheit. Und dann sind wir dort hin gegangen, wo sich die Vergangenheit abgespielt hat.
„Oh. Ich -"
Ich erzähle dir alles. Nach der Schule. Am besten auch Kathi und Diana.

Das Sofa ist sehr gemütlich. Ich kuschele mich zwischen die unzähligen Decken und Kissen, lausche dem Regen der laut auf die Dachpappe prasselt. Mein Fahrrad habe ich unter dem Baumhaus so hingestellt, dass es möglichst wenig nass wird. Eigentlich weiß ich nicht, was ich hier überhaupt mache. Es ist drei Uhr, normalerweise wäre ich jetzt entweder, wenn wir lange Schule hätten in der Schule oder hätte gerade meine Hausaufgaben fertig gemacht. Die werden dann wohl heute Abend erledigt. Ich bin gleich nachdem ich Maria alles erzählt (Kathi und Diana mussten los, aber ich habe ihnen versprochen sie anzurufen um es ihnen auch zu erzählen), zuhause zu Mittag gegessen habe und dann mit Bus und Fahrrad (das Fahrrad erst im Bus mitgenommen) hierher gefahren. Zum Baumhaus.

Tapp, tapp, tapp. Das ist nicht der Regen. Sind das... Schritte? Nico? Wer denn sonst. Er ist jetzt auf der Terrasse angekommen. Die Tür quietscht in den Angeln. Draußen steht ein Junge, das Gesicht kann ich nicht erkennen, da er die Kapuze seine Regenjacke tief ins Gesicht gezogen hat.
„Hey! Wer bist du? Was machst du hier?"
Oh, oh, das klingt weder freundlich noch nach Nico. Das ist er auch nicht, denn der Sprecher zieht jetzt die Kapuze ab, darunter quellen dicke, hellblonde Locken hervor. Er muss ungefähr so alt sein wie Nico. Ich setze mich auf. Was jetzt? Der versteht doch sicher nicht die Gebärdensprache, oder? Probehalber versuche ich es trotzdem.
Hallo.
Entweder er hat nicht hingeschaut oder er versteht mich nicht. Na super. Jetzt hängt er seine Jacke an einen der Haken.
„Also, was ist. Was machst du hier? Du weißt schon, dass das mein Baumhaus ist."
Tut mir leid. Ich bin stumm!
Mist, Mist, Mist! Er versteht es nicht! Ich stehe notgedrungen auf und gehe zu dem Regal, nehme ein Blatt von dem dort liegendem Block und einen Stift.
„Was machst du denn da?"
Ich schreibe auf ein Blatt:

Ich bin stumm, das heißt ich kann nicht reden.

„Ach so. Tut mir leid. Ich kann diese Handsprache nicht. Ich bin Nelio."

Ich heiße Lucie und bin -

Schnell streiche ich das und bin durch. Warum habe ich das geschrieben? Ich wollte ernsthaft diesem wildfremden Jungen mitteilen, dass ich früher Mia war! Während Nelio auf den Zettel starrt, merke ich, was er vorhin gesagt hat. Du weißt schon, dass das mein Baumhaus ist. Aber... das hieße ja, dass einer von ihnen, Nico oder Nelio, lügt.
„Was meinst du mit und bin? Wie alt du bist?"

Nein. Das ist kompliziert. Was machst du hier?

„Das selbe könnte ich ja wohl dich fragen! Das ist mein Baumhaus!"

Ich bin gestern mit einem Freund hergekommen der gesagt hat, das wäre sein Baumhaus!

„Dann lügt dein Freund. Das ist mein Baumhaus. Ich habe es gebaut."

Ganz alleine?

„Nein, natürlich nicht. Was meintest du denn jetzt mit und bin? Was bist du?"

Das ist kompliziert. Nenn mich einfach Lucie.

„Also Lucie, du bist anscheinend in mein Baumhaus gegangen obwohl es dir nicht gehört. Und wenn du jetzt schreibst, dass du dachtest dass alles hier schon lange verlassen wäre: Das glaubst du wohl selbst nicht. Hier liegt kein Fitzelchen Staub!"

Kennst du jemanden namens Nico? Er müsste so alt sein wie wir.

„Ja. Nico ist jetzt wirklich kein seltener Name. Woher wusstest du wo die Leiter versteckt war?"

Der Freund mit dem ich gestern hier war, hat mir das Versteck gezeigt.

„Niemand kennt das Versteck. Außer mir und noch zwei Leuten. Ich glaube nicht, dass dein Freund dazugehört."

Ich glaube dir nicht, das Baumhaus gehört nicht dir.

„Sehe ich so aus als würde ich dir glauben?"
Nein, eher nicht. Aber was hat das jetzt zu bedeuten? Nico lügt. Oder dieser Nelio lügt. Ich denke, dass Nelio einfach dieses Baumhaus gefunden hat und jetzt so tut als wäre es seins. Was nicht stimmt, denn nach Nico haben wir - also auch ich - es zusammen gebaut. Ich kann jetzt aber auch nicht wirklich schreiben dass ich es gebaut habe weil ich es ja nicht mehr weiß.
„Also, wenn du fertig bist mit nachdenken: Was willst du hier? Lüg nicht."
Ich schüttele nur den Kopf. Das wird mir alles zu viel.
„Oh man. Na toll. Ich wollte eigentlich alleine hier sein."

Dann gehe ich. Aber ich habe nicht gelogen.

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