DREIZEHN

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Als ich nach Hause komme, ist es schon fast dunkel. Es hat aufgehört zu regnen und ein kühler Wind weht, weshalb mir meine nassen Klamotten noch kälter vorkommen. Ich fröstele und stecke meine kalten Hände noch tiefer in die Taschen meines nassen Anoraks. Was wäre gewesen, wenn ich den Bus nicht erwischt hätte? Dann hätte ich vielleicht in der Dunkelheit des Abends an der Haltestelle gewartet oder ich wäre mit dem Fahrrad gefahren. Ich schiebe eben dieses in die Garage, dann klingele ich und warte bis meine Mutter öffnet.
„Oh Gott, wie siehst du denn aus! Warst du bei dem Regen vorhin etwa draußen unterwegs?"
Ja, aber ich bin mit dem Bus gefahren, da habe ich mich etwas aufwärmen können.
„Na dann, hoffentlich bekommst du keine Erkältung. Gib mir die Jacke, ich hänge sie an die Heizung. Und stopf deine Schuhe mit Zeitung aus, dann trocknen sie besser!"
Also schäle ich mich aus der Jacke und stopfe dann das von Mama gebrachte Papier in die Sneaker. Dabei fällt mir auf, dass Janoschs Schuhe auch nicht da sind.
Ist Janosch bei einem Freund?
„Was? Ach so ja, er wollte zu Lukas. Ich habe ihm gesagt, dass er auch bei ihm zu Abendessen darf, wenn es für dessen Familie okay ist."
Ich nicke, dann gehe ich die Treppe nach oben in mein Zimmer um mir trockene Sachen anzuziehen. Da ich heute sowieso nicht mehr nach draußen gehe und es schon recht spät ist, ist es wohl am praktischsten wenn ich mir gleich den Schlafanzug anziehe.

Janosch darf anscheinend bei seinem Freund Abendessen, denn Mama, Papa und ich essen nur zu dritt. Während ich mir ein Butterbrot mit Salami belege, überlege ich, wie ich mit meiner Suche weiter vorangehen soll. Vielleicht sollte ich mit meinen ehemaligen Nachbarn sprechen? Wohin ich zur Schule gegangen bin zum Beispiel. Und dann bei der Schule nach meinen damaligen Freunden suchen. Warum haben die eigentlich nicht auf den Zeitungsbericht über mein Auftauchen reagiert? Wer kennt dieses Mädchen? Warum hat meine Schule sich nicht gemeldet? Natürlich, ich war ja dort abgemeldet. Und ich weiß, dass das Erstaunen über mein Auftauchen im Wald recht bald abgeklungen ist, da kurz darauf ein großer Sturm kam, der einige Felder und Häuser verwüstet beziehungsweise kaputt gemacht hat. Vielleicht ist der Artikel ja nicht mal bis zu der Schule durchgedrungen. Anscheinend war sie ja ziemlich weit weg. Das Dorf in dem ich gewohnt habe, hat auch nichts davon mitbekommen, da es auf der anderen Seite des Waldes liegt und ein ganz anderer Landkreis ist und so weiter. Wer hätte auch darauf geachtet? Immerhin sind meine Eltern und ich ja offiziell weggezogen. Nur... wohin? Und warum bin ich nicht mitgekommen oder warum bin ich wieder zurückgekommen?

Als ich ins Bett gehe, regnet es wieder stärker. Janosch kommt nach Hause und muss duschen („Nein Mama, ich will nicht, ich bin nicht schmutzig!"), da er anscheinend mit Lukas während des Regens im Schlamm gespielt hat. Seine gesamten Klamotten sind dreckig und nass. Genau so wie meine gewesen sind, obwohl wir heute ganz unterschiedliche Dinge gemacht haben.

Ich liege im weißen Zimmer, im weißen Bett. Neben mir auf dem Nachttisch liegt ein Block und ein Kugelschreiber. Das brauche ich, um den Ärzten und anderen Leuten etwas mitzuteilen. Dass ich mich an nichts erinnern kann, dass ich nicht reden kann. Ich weiß nicht warum. Was ist mit mir passiert? Der Arzt mit der großen runden Brille hat gesagt, ich hätte vermutlich mein Gedächtnis verloren und wäre auch davor schon stumm gewesen. Jetzt versuchen sie, Leute zu finden, die mich kennen. Über die Zeitung. Eine Ärztin kommt jetzt herein. Auf dem Schild an ihrem Kittel steht: Frau Doktor Spetz. „Wir müssten ein paar Fotos von dir machen, um sie der Zeitung zuzuschicken. Damit deine Familie und Freunde dich erkennen und finden können." Sie hebt eine Kamera hoch. „Kannst du dich etwas aufrechter hinsetzen? Oder soll ich dir helfen?" Ich schüttele den Kopf und stütze mich hoch, bis ich an der Wand gelehnt im Bett sitze. „Sehr gut. Jetzt lächele mal kurz... und drei, zwei, eins." Klick, Klick, Klick, Klick. Helles Licht blendet meine Augen. Es sind keine Kamerablitze, es hört nicht auf zu blenden!

Ich reiße die Augen auf. Das Licht kommt von dem nicht ganz zugezogenen Vorhang durch den ein Streifen Sonnenlicht direkt auf mein Gesicht scheint. Warum hat der Wecker nicht geklingelt? Ach so, es ist ja Samstag. Die erste Woche nach den Ferien in der neuen Schule: erfolgreich überstanden! Ich bleibe erstmal noch liegen, blinzele ins Licht. Was mache ich heute? Von Wald und Baumhaus habe ich vorerst genug. Nicht am Wochenende! Das ist zum Ausschlafen, Ausruhen und Entspannen da. Hach.

Gerade habe ich mich wieder so schön in meine warme Decke eingekuschelt und angefangen zu dösen (ja, am Wochenende wird ausgeschlafen, egal ob man schon früh wach ist oder nicht), als mich das Türklingeln schon wieder aus dem Halbschlaf reißt. Ich höre tappende Schritte und dann Stimmen von unten. Ich kann leider nichts verstehen, aber es ist sicher der Postbote. Ich schließe die Augen wieder. Gefühlt im nächsten Moment springt jemand mit voller Wucht direkt auf meinen Bauch. Ich stöhne gequält auf und reiße (schon zum dritten Mal innerhalb einer Viertelstunde, das ist doch nicht normal!) die Augen auf, nur um in das böse grinsende Gesicht meines kleinen Bruders zu schauen. Im Hintergrund sehe ich Maria das Zimmer betreten.
„Lucie, Besuch für dich!" kräht der Siebenjährige, springt vom Bett und verlässt das Zimmer hüpfend.
„Hallo. Tut mir leid wenn ich dich geweckt habe. Ich kann auch wieder gehen, wenn ich störe."
Nein passt schon, ich war schon wach.
„Okay gut. Ich wollte nämlich fragen, ob wir vielleicht gemeinsam etwas über deine Vergangenheit, also du weißt schon, so etwas herausfinden...?"
Eigentlich... ja, können wir machen. Aber wir haben keinerlei Anhaltspunkte.
„Da müssen wir noch überlegen. Bist du dabei?"
Okay. Klar.
„Dann geh ich jetzt mal runter, damit du dich umziehen kannst."
Genau als Maria die Türe wieder schließt, lasse ich meinen Kopf und Oberkörper wieder auf mein Bett fallen. Es braucht einige Zeit, bis ich mich überwinden kann aufzustehen, mich umzuziehen und runter zum Frühstück zu gehen. Ich hasse es einfach, wenn man mich morgens an einem schulfreien Tag früh aufweckt. Egal ob ich vorher schon wach war oder nicht.

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