SECHS

673 26 0
                                    

Zehn Minuten vor acht. Es ist dämmerig, man merkt dass es bald Herbst wird. Ich schiebe meine Hände tief in die Taschen meines Hoodies, obwohl mir nicht wirklich kalt ist. Würde ich mich umdrehen, sähe ich vermutlich zwei Mädchen, die ungefähr fünfzig Meter hinter mir herlaufen. Ich höre ihre Stimmen, sie unterhalten sich, versuchen wie ganz normale Spaziergänger zu wirken, ich kann nicht verstehen worüber sie reden. Über belanglose Dinge. Maria ist - anders als Kathi und Diana hinter mir - schon beim Spielplatz und versteckt sich dort oben im Rutschenturm. Ich schaue auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Ich biege in die Seebergstraße ein, jetzt kann ich auch schon den Spielplatz sehen. Wie erwartet ist alles menschenleer, die Leute sitzen jetzt zuhause und schauen die Tagesschau oder genießen den lauen Abend auf der Terrasse. Quietschend schwingt das Tor auf. Oben bei der Röhrenrutsche bewegt sich kurz etwas. Ich setze mich auf eine der beiden Schaukeln und schwinge leicht hin und her, versuche Kathi und Diana nicht zu beachten, die gerade im letzten Hauseingang vor dem Spielplatz verschwinden. Hoffentlich kommt dieser mysteriöse Briefschreiber nicht aus der gleichen Richtung wie ich, dann wird er - oder sie? - die beiden sofort sehen.

Aber er kommt aus der anderen Richtung. Ein großer, schwarzhaariger Junge öffnet das Tor zum Spielplatz. Ich schaue ihm entgegen.
Hallo. Schön, dass du gekommen bist.
Ich erwidere nichts. Ich weiß dass er Gebärdensprache kann, aber ob er auch wirklich mit mir normal spricht... viele Leute meinen nämlich, dass ich, weil ich stumm bin, auch irgendwie nicht so gut sehe oder höre. Das ist völliger Schwachsinn! Nur weil ich nicht rede, muss man nicht laut und überdeutlich reden oder so etwas in der Art.
Nico setzt sich auf die Schaukel neben mich, schaut mich aber nicht an, nur nach vorne.
„Weißt du, als ich dich gestern früh in der Schule gesehen habe..."
Er seufzt und dreht sich zu mir, sieht mich an. Was soll das? Was will er? Wenigstens kann er normal reden.
„Ich... habe dich erkannt, Mia."
Ich wollte eigentlich erst mal nichts sagen beziehungsweise machen, aber wenn er meinen Namen verwechselt...
Ich heiße Lucie und nicht Mia.
„Du heißt jetzt vielleicht Lucie, ich weiß. Aber du bist Mia. Das hast du nur vergessen. Wir waren befreundet! Mia, damals, ich -"
Ich springe auf. Er lügt, er lügt, er lügt.
Lügner!
Nein, Mia..."
Er ist jetzt auch aufgestanden.
„Bitte...hör doch wenigstens zu! Du willst doch sicher etwas von damals wissen!"
Er klingt verzweifelt, das muss ich hinzufügen. Aber nichts gibt ihm das Recht, so etwas zu behaupten. Wir sind in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit und nur weil ich weniger Vergangenheit habe als andere, heißt das nicht dass jemand behaupten soll, dass er etwas von damals weiß! Weil ich mich selbst nicht mehr erinnern kann.
Lass mich in Ruhe. Ich bin nicht Mia oder sonst wer. Ich bin Lucie Halbe!
„Aber doch erst seit zweieinhalb Jahren. Und davor?"
Hau ab!
Wenn ich schreien könnte, hätte ich es getan, ich hätte ihn angeschrien, dass er lügt, dass es nicht sein kann. Aber so kann ich mich nur umdrehen und zum Tor laufen, die Straße entlang, immer weiter, nur weg.
„Mia! Lucie! Bitte!" höre ich ihn noch rufen aber da bin ich schon um die Ecke gebogen. Immer weiter, nur weg.

„Lucie? Lucie! Wo bist du? Komm her, er ist nicht mehr da."
Ich höre Marias Stimme nur gedämpft, wie durch ein dickes Tuch. Und als sie zu mir kommt und sich neben mich auf die Bank an der Straßenecke setzt, sehe ich alles auch nur durch einen Schleier.
„Hier." Diana reicht mir ein Taschentuch.
Ich wische mir die Tränen von den Wangen und Augen und blicke auf. Vor mir stehen Kathi und Diana. Maria, die neben mir sitzt, legt tröstend und beruhigend einen Arm um mich.
„Ich... wir konnten dich natürlich nicht verstehen aber Nico schon." murmelt Kathi.
„Hey, Lucie, ist doch alles gut. Du brauchst nicht weinen. Wir alle wissen dass er lügt."
Ich weiß es nicht.
„Ich rede noch mal mit ihm, okay? Dann klären wir das." Maria drückt mich nochmals. „Komm jetzt. Erst gehen wir mal nach Hause und morgen sieht sicher alles ganz anders aus."
Ich weiß nicht.

STUMMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt