SECHZEHN

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Der Bus ruckelt über die Bundesstraße. Gestern war ein Sonntag wie es sein sollte: Ausschlafen, frühstücken, sonst nichts machen außer lesen, faul rumliegen... eigentlich wollte ich Maria ja noch das wegen Kathi erzählen, um genau zu sein jetzt im Bus, aber -
„Wo ist denn deine Freundin Maria?"
Erik dreht sich um und betrachtet nachdenklich den freien Sitz neben mir.
Ich ziehe meinen Block und einen Stift aus dem Rucksack.

Maria ist heute krank.

„Oh. Was hat sie denn?"

Fieber. Und Halsschmerzen, Husten, Schnupfen, sowas.

„Ach so."
Erik dreht sich wieder nach vorne, er scheint kein Interesse zu haben, sich mit mir zu unterhalten. Na gut, dann lerne ich eben noch ein bisschen Englisch. Falls ich abgefragt werde. Oh nein! Wenn Maria nicht da ist, muss ich ja alles aufschreiben was ich sagen will!

Die Schule ist eigentlich ziemlich langweilig heute, in der Pause unterhalten sich Diana und Kathi über irgendwelche Dinge. Ich kann mich nicht daran beteiligen, höchstens ab und zu nicken. Mir fällt ein, dass ein Vorteil verspielt wurde und zwar, dass Nico jetzt weiß, dass ich meine Freundinnen eingeweiht habe. Aber andererseits weiß auch niemand, dass ich Kathi belauscht habe.

In Deutsch frage ich mich, was mit Nico los ist. Er war doch früher mein bester Freund, warum sollte er mich jetzt irgendwie ausspionieren lassen was ich mache. Warum fragt er nicht selber was ich herausgefunden habe?

In Kunst überlege ich, ob er nicht von Anfang an gelogen hat. Darüber, dass er früher mein Freund war. Der Rest könnte ja stimmen, aber vielleicht gibt es irgendwo einen anderen Jungen dessen Name mit N anfängt und der damals eine gute Freundin namens Mia verloren hat. Nelio zum Beispiel. Aber den Gedanken verwerfe ich sofort wieder. Nein, der hätte mich vor ein paar Tagen im Baumhaus doch erkannt.

In Wirtschaft gehe ich im Kopf die Leute durch, die vielleicht mit Nico befreundet sind, oder eher waren. Mit wem darf ich nicht reden, weil ich sonst alles herausfinde? Und was soll ich nicht herausfinden? Die Wahrheit vermutlich.

Im Biologieunterricht schreibe ich den ewig langen Hefteintrag von der Tafel mit. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit.

Dafür aber wieder im Bus auf dem Weg nach Hause. Was will Nico damit erreichen? Warum erzählt er mir meine Geschichte und setzt sich als mein „bester Freund" hinein? Warum redet er nicht mit meinem echtem besten Freund? Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass Nico mich von Anfang an angelogen hat. Dafür spricht zum Beispiel:
1. Beim Baumhaus ist er nur sehr langsam hochgekommen, nicht so wie jemand der das schon sechs Jahre lang gemacht hat.
2. Er wollte nicht alle meine Fragen beantworten. Weil er es nicht kann.
3. Mareike Kohl hat gesagt dass damals zwei Jungs nach mir gefragt haben. Einer war sehr verzweifelt, das war dann mein „echter bester Freund", der andere war Nico.
Mehr fällt mir jetzt auf die Schnelle nicht ein, außerdem muss ich jetzt auch aussteigen.

Kurz nach dem Mittagessen, ich sitze gerade in Janoschs Zimmer und muss mir seine Lego-Sammlung ansehen, klingelt mein Handy in meinem Zimmer. Janosch ist schneller als ich, deshalb beeile ich mich auch nicht so sehr.
„Hallo hier ist Janosch!", quäkt er „Ich bin an Lucies Handy."
Mach mal die Kamera an, damit ich auch mitreden kann.
„Da ist eine Frau Kohl dran. Kannst du deine Kamera anmachen damit Lucie auch mitreden kann?"
Sie hat keine Kamera, sie hat kein Handy.
Und außerdem duzt man Fremde nicht einfach.
„Ah. Okay, sag ich ihr. Ja ich bin ihr Bruder. Ja. Sie kommt. Tschüss."
Was hat sie gesagt?
„Du sollst zu ihr kommen weil ihr irgendwas aufgefallen ist. Was ist denn?"
Gar nichts, ich muss jetzt gehen.
„Ich auch! Ich komme mit!"
Nein, das tust du nicht.
„Doch! Die Frau Dings kann keine Gebärdensprache, ich schon! Also muss ich mit!"
Mist, daran hatte ich gar nicht gedacht. Maria ist ja krank...
Meinetwegen. Wir fahren mit Bus und Fahrrad. In fünf Minuten vor der Garage, okay?

Janosch hält überraschenderweise ganz gut mit, denn ich fahre ziemlich schnell. Schließlich sind wir in der kleinen Siedlung angekommen. Zwei Mädchen - das müssen die beiden sein, von denen Mareike erzählt hat - springen am Ende der Straße auf einem großen Trampolin in deren Garten. Ein Junge, der ungefähr so alt ist wie mein kleiner Bruder aber strahlend hellblonde Haare hat, fährt mit einem Roller durch einen mit Straßenkreide selbst gemalten Parcours auf der Straße herum. Er hat einen schwarzen Helm an. Janosch und ich parken unsere Fahrräder auf dem Kiesweg der zu meinem alten Wohnhaus führt.
Janosch, kannst du mal diesen Jungen fragen, wie er heißt und ob er auch Inlineskater hat? Und einen roten Helm?
„Warum?"
Mach einfach. Wäre wichtig.
„Na gut."
Er geht auf den Jungen zu. Mareike meinte er heißt Tom? Oder Tommy, genau, das war es!
„Hey du! Wie heißt du? Ich bin Janosch."
„Tommy."
„Hast du auch Inlineskater?"
„Ne, ich kann das noch nicht mal. Warum?"
„Oder einen roten Helm?"
„Nö. Aber ich will so einen haben. Rot ist meine Lieblingsfarbe, nach Blau. Ein schwarzer Helm ist ja langweilig, aber meine Mama hat ihn mir zum Geburtstag gekauft."
„Ach so, vielleicht kann ich nachher auch durch deinen Parcours fahren? Der ist voll cool."
„Jap. Hab ich mit meinem Papa gemalt. Wohnen da Oma und Opa von euch?"
Tommy zeigt auf das Haus vor dem ich stehe. Janosch überlegt kurz, dann nickt er.
„Ja, sozusagen. Bis nachher, Tommy!"
Er kommt zurück zu mir gerannt.
„Er heißt Tommy, hat keine Inlineskater, auch keinen roter Helm. Und?"
Ich hab nur gedacht... egal. Jetzt gibt es nur noch mehr Fragen.
Wer war der Junge, der am Samstag vor dem Fenster gelauscht hat?

„Hallo Lucie und... du musst Janosch sein, oder?"
Mein Bruder nickt und schaut interessiert im Flur herum. Peer klingt aufgeregt, was er wohl entdeckt hat?
„Kommt mal mit in den Keller. Mareike wartet dort auf uns."
Was habt ihr denn herausgefunden?
„Was? Oh je, jetzt können wir dich ja gar nicht verstehen! Wo ist denn deine Freundin Maria oder Nico?"
„Maria ist krank, darum bin ich ja da. Lucie hat gefragt was ihr herausgefunden habt." erklärt Janosch.
„Ach so, das werdet ihr gleich sehen. Kommt mit!"

Der Keller ist duster und durch die leicht flackernden Lampen wird es auch nicht gerade besser. Peer führt uns, der Keller ist - wie das ganze Haus - nicht besonders groß. Schließlich stehen wir im Waschkeller, der mit dunkelgrünen Fliesen belegt ist. Mareike steht vor einer Eisentür in der hintersten Ecke des Raumes.
„Gut dass du da bist, Lucie! Mir ist noch etwas eingefallen was vielleicht wichtig sein könnte. Komm mal her. Schau, wir haben immer gedacht, dass hinter dieser Türe die Heizung ist. Das würde passen, es ist dann zwar eine recht große Heizung, aber es kommt von der Größe her hin. Also zumindest wenn der Keller genau so groß ist wie das Erdgeschoss. Wir hatten nie einen Schlüssel für diese Tür, es hat uns aber auch nicht gestört. Hier ist auch das Schlüsselloch."
Es ist in der hellgrauen Eisentür auf einer normalen Höhe eingelassen. Was ist daran besonders?
„Das einzige Sonderbare ist das hier."
Mareike geht in die Knie, ich mache es ihr nach. In der linken unteren Ecke ist ein weiteres kleines Schlüsselloch, aber nicht in normaler Form. Es ist grob viereckig und an den Seiten des Schlüssels müssen noch einige weitere kleine Quader abstehen. Mareike fährt sanft mit der Hand über eine Zeichnung im Metall, die darüber eingraviert ist. Es ist ein Bild wie der Schlüssel aussehen sollte, der dort hineinpasst. Das Bild sieht exakt so aus wie der Anhänger an meiner Kette.
„Wir glauben jetzt, dass das obere Schlüsselloch nur eine Ablenkung ist, das Eigentliche ist hier unten." flüstert Mareike.
„Und dann hat sie sich gestern daran erinnert, dass du eine Kette anhattest - mit einem genau so geformten Schlüssel daran." sagt Peer und zeigt auf mein Lederband, welches das einzige Stück ist, was ich noch von meinem alten Leben habe.
Langsam streife ich mir das Band über den Kopf und nehme den Schlüssel in die Hand. Natürlich, ein Schlüssel. Eine Sonderanfertigung, ein spezieller Schlüssel, der nur im Keller meines alten Hauses zur Verwendung kommen kann. Langsam schiebe ich ihn in das Loch - er passt!
„Mach schneller!" ruft Janosch aufgeregt.
„Psst!" macht Peer.
Ich drehe den Schlüssel im Schloss. Es knirscht, etwas rattert. Dann: Stille. Nichts. Mareike drückt die Klinke herunter, zieht und drückt. Die Türe ist immer noch verschlossen. Ich schüttele den Kopf.

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