FÜNF

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Ich lehne meinen Kopf an das kühle Fenster und schaue nach draußen. Hellgrüne Wiesen mit weißen Flecken, dann gelb, überall gelb, jetzt fahren wir in den Wald, dunkelgrün und braun. Eigentlich ist die Landschaft hier wirklich schön. Da vergisst man ja fast, dass man in einem Bus voller lärmender Schulkinder sitzt und gleich ein ganzer Tag - wobei, eigentlich eher ein halber Tag - voller Unterricht beginnt.

„Hey? Hey, schläfst du?!"
Ich setze mich ruckartig auf. Maria schüttelt mich und packt meinen Rucksack und den Turnbeutel, der vor mir auf dem Boden steht. Es ist laut, überall unterhalten sich Schülerinnen und Schüler die den Bus verlassen. Ich schaue nach draußen. Jetzt sehe ich ein rotes Ziegelgebäude. Wir sind da.
„Lucie! Verdammt, du hast geschlafen."
Meine Freundin rauft sich in gespielter Verzweiflung die Haare. Das sieht witzig aus, jetzt sind die nämlich total zerstrubbelt. Sage ich ihr das? Nein, erst später.
Vielleicht.
„Vielleicht, so so. Komm schon, wir sind da! Schon die ganze Zeit übrigens."
Das stimmt. Gerade verlassen die Letzten den Bus. Ich stehe auf und schnappe mir Rucksack und Turnbeutel aus Marias Hand und wir gehen nach draußen. Hinter uns fährt der Bus wieder los.

Auf dem Pausenhof sind auch wieder so viele Leute wie gestern, denn anscheinend wollen sich alle in den zehn Minuten vor Schulbeginn noch draußen aufhalten. Verständlich, heute ist ein schöner sonniger Morgen. Auf der selben Bank wie in der gestrigen Pause sitzen auch Kathi und Diana. Wir gehen erstmal zu ihnen.
„Hi Leute!" ruft Diana.
Aha, sie ist also eindeutig diejenige, die vor der Schule extrem motiviert ist. Kathi schaut eher etwas müde, nickt uns aber trotzdem zu.
„Hallo."
Maria stellt ihre Tasche schwungvoll auf dem Boden ab.
„Was haben wir jetzt so?"
„Sport..."
Kathi gähnt.
„In der ersten Stunde, das ist sowas von mies ich sag es euch..."
Magst du keinen Schulsport?
Maria übersetzt Wort für Wort.
„Doch schon, aber nicht erstens: in der Schule, zweitens: so früh und drittens: nicht bei der Lehrerin."
Wie heißt die und warum?
„Wie heißt unsere Sportlehrerin und warum magst du sie nicht? Also wie ist die denn so?"
„Uh... also gut. Sie heißt Frau Hall und macht mit uns nur dumme, äh, also uninteressante Sachen, außerdem kann sie selbst nicht mal wirklich Sport. Sie kann die Sachen nicht vormachen, sie erklärt es nur."
Oh, okay. Das klingt ja nicht so toll. Jetzt gongt es (ganz anders als in unserer alten Schule! Daran werde ich mich nie gewöhnen...) und alle verlassen nach und nach den Pausenhof.
„Also gut. Kommt, die Turnhalle ist in diese Richtung."

Bei der Turnhalle, die ziemlich versteckt hinter einem großem Gebüsch liegt, versammelt sich die ganze Klasse um auf diese Frau Herkel zu warten. Natürlich nur die Mädchen, die Jungs gehen eine Tür weiter nach drinnen, ihr Lehrer ist anscheinend schon dort. Endlich kommt die Lehrerin. Sie ist... recht kräftig gebaut und schnauft bei jedem Schritt wie ein Walross. Zumindest stelle ich mir vor, dass Walrösser so schnauben.
„Na dann... rein in die gute Stube!"
Schnauf, schnauf. Sogar beim Aufschließen. Die Umkleide ist eigentlich ganz in Ordnung, meine Befürchtung war, dass überall Aufkleber sind, alles vollgeschmiert ist und es nach Schweiß stinkt. Aber da wir erst die erste Stunde am zweiten Tag nach den Sommerferien haben, weiß ich nicht ob sich Letzteres nicht noch ändern wird...

„So, in zehn Minuten ist Pause (schnauf, schnauf), wir machen Schluss für heute."
Erleichtertes Stöhnen von allen Seiten. Die ganze Klasse geht in die Umkleidekabine, Kathi, Diana, Maria und ich sind eine der letzten, da wir noch beim Abbauen der Sportgeräte und beim Aufräumen der Bälle helfen. Und so sind schon fast alle unserer Mitschülerinnen nach draußen gegangen als wir anfangen, uns unsere normalen Klamotten anzuziehen. Als ich fertig bin - schneller als alle meine Freundinnen - sind nur noch wir da. Ich taste mit der Hand in meinem Rucksack herum: Wo ist nur meine Uhr? Die hatte ich dort hineingelegt damit sie im Sportunterricht nicht kaputt geht oder so... meine Finger stoßen (ganz unten) gegen die runde Glasscheibe. Ich grinse und ziehe die Uhr heraus. Dabei streift mein Arm ein Blatt Papier, dass lose im Rucksack zu liegen scheint.
Nun, das kann nicht sein. Ich bin sehr ordentlich und würde ein Blatt Papier sicher in meine Mappe gelegt haben. Vermutlich ist es rausgerutscht? Während ich meine Uhr über mein Handgelenk streife, frage ich mich, was das überhaupt für ein Blatt ist. Den einzigen Elternbrief haben wir gestern bekommen und der liegt zu Hause auf dem Küchentisch. Hm. Um eine Lösung auf diese Frage zu bekommen nehme ich das Blatt aus dem Rucksack. Es ist in der Mitte zusammengefaltet.
„Was ist das?"
Ich zucke zusammen und drehe mich um. Diana versucht über meine Schulter hinweg zu dem Blatt zu schauen.
Keine Ahnung. Das lag in meinem Rucksack aber ich habe es nicht dort hineingelegt.
Da auch Maria und Kathi, die sich jetzt auch umgezogen haben auf uns aufmerksam geworden sind, kann Maria die Gebärdensprache für die anderen übersetzen.
„Dann öffne es halt. Vielleicht ist es ein Liebesbrief!" ruft Kathi aufgeregt.
Ich seufze und falte das Blatt auseinander. Dort hat wirklich jemand etwas geschrieben:

Lucie,
Triff mich heute Abend um 8 Uhr am Spielplatz in der Seebergstraße.
Sei allein.
N.

Wortlos reiche ich den Brief an die anderen Mädchen weiter. Wer bitte möchte mich alleine treffen? Für was steht das Kürzel N? Dieser Nico der Gebärdensprache konnte?
„Es kann jeder geschrieben haben, aus unserer Klasse natürlich, aber auch jeder aus der Schule. Es war nicht abgesperrt." vermutet Maria.
„Und wenn man sagt dass man schnell auf die Toilette muss, dann aber hier dir den Brief in die Tasche legt?" überlegt Diana.
Und wer ist N.?
„Das werden wir herausfinden! Und zwar heute Abend um acht!", ruft Kathi „Also natürlich nur, wenn es für dich okay ist..."
Ich wäre da ganz sicher nicht alleine hingegangen. Wer von euch würde denn mitkommen? Natürlich ohne dass der Absender des Briefes euch sieht.
„Ich würde mitkommen.", lächelt Maria.
„Das ist ja so wie ein richtiger Detektiv-Fall!", freut sich Kathi „Natürlich komme ich!"
„Ich komme auch mit! Wollen wir uns zwei Stunden früher treffen? Bei dem, der am Nächsten an diesem Spielplatz wohnt? Wo ist der denn eigentlich?"
Maria und ich sehen uns an.
„In der Nähe von Lucies und meiner Straße. Es sind ungefähr fünf Minuten zu Fuß."
„Dann um sechs Uhr bei dir, Lucie?"
Ja gerne, warum nicht?

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