EINUNDZWANZIG

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Ich stehe nur geschockt da, während ein keuchendes Knäuel, bestehend aus zwei Jungs sich auf dem grasbewachsenen Boden wälzt. Wer ist der andere? Wer ist der Junge im schwarzen T-Shirt? Er hat halblange lockige, blonde Haare. Nelio! Was soll das jetzt bedeuten? Was soll ich jetzt tun? Warum zögere ich überhaupt, warum helfe ich Nelio nicht?! Weil es zu spät ist. Nico hat ihn zu Boden gedrückt und hält ihm - oh Gott - ein Taschenmesser an den Hals. Wo hat er das her? Mist, vermutlich war es in seiner Hosentasche und er hat geschafft, es herauszuziehen und auszuklappen! Beide keuchen noch, aber Nico ist eindeutig der Sieger.
„Wen haben wir denn da? Aha, den kleinen Nelio. Wolltest du etwa deine Freundin Mia retten? Oder Lucie wie sie sich jetzt nennt?"
„Ich bin verdammt noch mal nur einen Monat jünger als du."
„Das ist das Einzige, was du zu sagen hast?"
Nico dreht sich, nicht ohne das Messer von Nelios Kehle zu lockern zu mir um. Er grinst hämisch, meinen Gesichtsausdruck kann man wohl am besten mit fassungslos und erschrocken bezeichnen.
„Wenn du irgendeine falsche Bewegung machst..."
Lass ihn los, bitte! Du könntest ihn verletzen oder sogar -
„Ach, und das weiß ich nicht? Gut, keine Ahnung, wie du,", er dreht sein Gesicht wieder zu Nelio „herausgefunden hast dass wir hier sind, aber ihr beide habt mich schon genug aufgehalten. Lucie!"
Was? Verzweifelt, ja so sehe ich jetzt aus. Und ängstlich.
„Los, geh rein."
Nico deutet mit dem Kinn auf das dunkle Loch im Boden.
„Und keinen Mucks, okay?"
Gezwungenermaßen trete ich an den Rand des Eingangs. Aus den Augenwinkeln sehe ich wie Nico Nelio am Shirt hochzieht, aber gleich die Klinge wieder in Position bringt. Das ist doch alles nicht wahr! Nur ein Alptraum! Aber ich brauche mich nicht zu zwicken, ich weiß, das alles hier ist real.
„Geh jetzt endlich! Worauf wartest du?" blafft Nico.
Ich stelle meinen Fuß auf die erste rostige Stufe der Trittleiter. Dann den nächsten etwas weiter unten. Und so weiter. Nico schubst Nelio hinterher und fängt dann selber an, hinabzuklettern. Jeder Laut, jedes Tappen auf der Leiter, jedes mal Luft holen fabriziert ein schauriges Echo. Ich fröstele.

Mein Vater war ein Ingenieur. Er hat diesen alten Tunnel umgebaut und gesichert. Nelio war früher mein bester Freund. Nico hat mich betrogen. Warum habe ich nicht auf Maria gehört und mein Handy mitgenommen? Oder bin gar nicht erst alleine hingegangen? All das und noch viel, viel mehr schießt mir durch den Kopf, bis ich schließlich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Von hier aus führt ein Gang in Richtung des Dorfes, wenn ich mich in der ungefähren Richtung nicht irre. Wie erwähnt, mein Orientierungssinn... na ja. Ich stehe jetzt in einem breiten Gang, hier können wir zu dritt locker nebeneinander gehen. Und nachdem die beiden Jungen hinter mir auch angekommen sind, tun wir das auch.
„So. Los Lucie, geh neben Nelio. Versuch nicht abzuhauen."
Er packt Nelios hellblonde, lange Locken und grinst. Ich nicke. So marschieren wir los. Nico am Rand, mit der Handytaschenlampe vorrausleuchtend, neben ihm - am T-Shirt gezogen - Nelio und dann an der anderen Wand ich. Unsere Schritte hallen laut im Gang. Nelio schaut mich an.
„Tut mir leid, dass ich vor zwei Wochen so gemein zu dir war. Ich wusste nicht, dass du das Baumhaus auch mitgebaut hast. Ich hab dich nicht erkannt weil ich nicht mit dir gerechnet habe!" flüstert er.
Ich nicke.
„Du erinnerst dich nicht mehr, aber wir waren einmal beste Freunde und -"
„Klappe. Wir müssten in fünf Minuten da sein."
Kannst du nicht wenigstens erklären warum du das machst? Kannst du nicht die Wahrheit sagen?
„Mia will was sagen." sagt Nelio.
„Ah?"
Jetzt wo Nico zu mir schaut wiederhole ich meine Frage noch einmal und füge noch ein Bitte dazu.
„Nachher vielleicht. Erst will ich das haben, wonach ich schon seit mehr als drei Jahren aus bin."
„Sag uns halt wenigstens, was das ist, du -" knurrt Nelio gereizt.
Nico bleibt stehen und reißt Nelios Arm zurück.
„Wie wolltest du mich gerade nennen?"
Lasst das!
„Oh, du mischst dich ein? Weißt du, Lucie..."
Nico bugsiert seinen Gefangenen wieder so, dass wir weitergehen können.
„Zwischen mir und deinem kleinen Freund hier, also... wir haben uns mal zerstritten. Heftig zerstritten. Aber das ist eine andere Geschichte, für später vielleicht. Also, was ich haben will? Einen Schlüssel, okay? Einen einfachen Schlüssel mit so einem normalen Anhänger auf dem die Nummer 24 steht. Wenn es euch interessiert - er passt in das Schließfach in einer Bank. Du hast doch nicht wirklich geglaubt Lucie, dass deine Eltern so dumm waren, hier ihr gesamtes Erspartes zu lagern. Dieser Tunnel, der Raum in den er mündet, ist eigentlich illegal. Gehört niemandem, höchstens der Stadt. Hier sind nur Erinnerungen. Kein Geld. Aber der Schlüssel, der zum Geld führt."
„Wozu brauchst du das Geld?"
„Na also das wird mir dann schon zu Privat. Außerdem sind wir jetzt da."
Das stimmt, der Gang führt in einen Raum, der geschätzte fünf mal fünf Meter breit und normal hoch ist. Dahinter geht der Gang weiter, ich weiß auch schon wohin. Sind hier in diesem Raum Sachen meiner Eltern, Sachen von mir? Unser einziger Lichtstrahl erfasst links einen großen Schrank, rechts steht ein Tisch oder eher eine Werkbank. Darauf liegen kleine Schrauben, unterschiedlich große und kleine Teile, die komisch geformt sind. An der Wand hängen Hammer, Zangen. Eine Schutzmaske zum Schweißen. Das hier ist eine Werkstatt, ein Arbeitszimmer. Von meinem Vater, er war ja Ingenieur.
„Hier muss es doch Licht geben, oder? Ah, da."
Die Lampe an der Decke geht an, nachdem Nico den Schalter umgelegt hat.
„Gut, der Schlüssel. Ein einfacher, normaler Schlüssel halt."
„Ich kann ihn suchen." sagt Nelio.
„Du ganz sicher nicht. Dir vertraue ich nicht. Du warst schon einmal hier. Du hast dann bestimmt irgendeinen Trick auf Lager. Lucie sucht."

Meine Uhr zeigt an, dass ich bisher nur wenige Minuten gesucht habe, aber es fühlt sich an wie Stunden. Das schlimmste ist, dass mir all die Dinge im Schrank nichts sagen. Das sollten sie aber! Ich finde zum Beispiel eine zerknautschte Kuscheltier-Ente. Nichts. Keine Erinnerung. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit ertasten meine Finger eine kleine Holzkiste im obersten Regal. Ich nehme sie herunter und Klappe sie auf. Innen liegt ein kleiner, silberner Schlüssel. Auf dem daran hängenden rotem Stück Plastik steht in säuberlicher Handschrift: Schließfach Nummer 24.
Wortlos, wenn man das in meinem Fall so sagen kann, reiche ich das Kästchen weiter. Nicos Augen werden groß, er starrt auf den Schlüssel. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, ein frohes, erleichtertes Lächeln, etwas was ich an ihm noch nie gesehen habe.
„Das ist er. Los, wir gehen wieder raus."
„Nein, sag uns erst was du mit Mias Geld machen willst." knurrt der blonde Junge.
„Ich habe schon vorher gesagt dass euch das nichts angeht. Und jetzt sei still, okay?" sagt Nico genervt.
„Nein. Ich lasse nicht zu, dass du Mia ausraubst und mit uns wer weiß was machst!"
Im nächsten Moment liegen sie wieder auf dem Boden, stoßen herumrollend gegen den Stuhl, gegen dem Tisch, es poltert, es scheppert und schon wieder bevor ich irgendwie helfen kann liegt Nico über Nelio und drückt ihm sein Taschenmesser an die Kehle.
„Du warst mal mein Freund!" schreit Nelio.
„Nie! Ich habe nur so getan!" knurrt Nico.
„Ich habe dir vertraut!" keucht Nelio.
„Ich weiß." Nico lacht. „Du warst schon immer dumm."
„Ich bring dich um!" schreit Nelio.
„Nein, ich bring dich um!" schreit Nico.
„Stop!" schreie ich.

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