ZWEI

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Der Schulhof ist groß aber trotzdem voll, wie ich finde. 160 Schüler im Vergleich zu ungefähr... 1000, schätze ich mal. Drei Klassen pro Jahrgang, 5. - 12. Klasse, jeweils 30 Kinder? Kommt hin.

Maria und ich laufen hinter Erik her, der sich geschickt einen Weg durch die Menge in Richtung Hauptgebäude bahnt. Die herumstehenden, laufenden und auf Bänken am Rand sitzenden Schüler beachten uns nicht. Sie sind damit beschäftigt ihre Freunde zu umarmen und ihre Ferienerlebnisse auszutauschen.
„...am Strand war so ein Stand, wo man..."
„...hat er nicht gemacht? Ich glaub es..."
„...Gabi! Nein, bist du braun geworden!"
„...hoffentlich haben wir nicht wieder Frau Tiezmann in..."
„Stimmt ja, heute kommen ja ein paar neue aus der anderen Schule, meinst du auch in unsere Klasse?"
Ich drehe mich um und erhasche einen Blick auf zwei jüngere Mädchen. Eigentlich will ich stehen bleiben, die vielen neuen Eindrücke verarbeiten, mir die neuen Gesichter anschauen -
„Lucie!"
Maria wirft mich aus meinen Gedanken indem sie meine Hand packt und mich energisch wegzieht.
„Bleib doch nicht stehen, in fünf Minuten gongt es und wir müssen noch zum Sekretariat und dann zum Klassenzimmer! Und wo wollen wir uns hinsetzen?"
Sie ist sehr nervös.
„Keine Panik, bei uns wird die Klassenzimmertüre erst beim Gong aufgesperrt, also habt ihr noch Zeit." Erik dreht sich um, lächelt und stößt die Tür zum Hauptgebäude auf.

Hauptgebäude
Raum E1 - Sekretariat
Raum E2-6 - Naturwissenschaften
Raum OG1-6 - Klassen 5 und 6

Mehr kann ich nicht lesen, denn eine Gruppe Jugendlicher drängelt nach draußen. Ich gehe schnell weiter.

„Maria Neustetter und Lucie Halbe. Wir sind neu hier, unsere alte Schule wurde aufgelöst."
Die Dame im Sekretariat schaut Maria liebenswürdig an und reicht ihr dann zwei Umschläge.
„Da drin findet ihr alles was ihr vorerst braucht um euch zurechtzufinden. Und du...", sie schaut jetzt zu mir „bist also Lucie und bist stumm, nicht wahr?"
Ich nicke.
„Nun du brauchst gar keine Angst zu haben, du wirst dich bestimmt gut eingewöhnen. Wenn du etwas brauchst, komm einfach hierher. In dem Umschlag für dich werden auch noch ein paar Fragen beantwortet wie es mit deinen mündlichen Noten geregelt wird und solche Dinge."
Solange ich neben Maria sitze passt das eigentlich, ich zeige ihr dann was ich sagen will und sie übersetzt.
„Lucie sagt, dass sie, solange sie neben mir sitzt, keine Probleme damit hat, sie zeigt mir was sie sagen will und ich übersetze das dann. So war das in unserer alten Schule." fügt Maria letzteres noch hinzu.
„Na dann, wir werden mal sehen. Viel Glück und Spaß an eurem ersten Schultag."
Dann wendet sie sich dem Mädchen hinter uns zu die anscheinend ein Problem mit ihrem Spind hat.

Erik führt uns zum Klassenzimmer der 10b. Davor stehen ein paar Leute, die anderen scheinen noch auf dem Pausenhof zu sein.
Weiß die Klasse über mich Bescheid?
Ich hasse es nämlich, wenn Maria meine... Lage erklären muss.
„Ja, wir wurden informiert." In dem Moment ertönen laute Stimmen und am Ende des Ganges erscheint eine Lehrerin, hinter ihr eine Horde Jugendlicher die vermutlich in unserer Klasse sind.
Die Lehrerin ist Frau Gärter? Vermutlich. Um die 30, blonde, wellige Haare, spitze Nase, große braune Ledertasche. Hoffentlich ganz nett.

Alle strömen in das Klassenzimmer, die letzte Reihe ist zuerst voll, die erste aber direkt danach. Vermutlich die, die sehr strebsam erscheinen wollen oder sind. Erik verabschiedet sich schnell und geht zu drei weiteren Jungs die ihm einen Platz frei halten. Maria und ich steuern die zweite Reihe an, die am Fenster.
Willst du am Fenster sitzen?
„Nein passt schon, du kannst."
Ich lasse mich auf den Stuhl sinken und schaue nach draußen. Man kann vom dritten Stockwerk aus das Schulgelände überblicken, dann noch ein paar Häuser und dahinter Felder, Wiesen, am Horizont ein Wald. Die kleine Straße die der Bus vorhin entlanggefahren ist, führt schnurstracks darauf zu und hinein.
„Bitte alle mal herhören, ich bin Frau Gärter und eure Klassenlehrerin, ich unterrichte bei euch Englisch."
Maria stöhnt leise auf.
„Für alle neuen unter uns: Herzlich Willkommen! Wer ist denn bitte neu?"
Außer Maria und mir melden sich noch vier weitere, zwei Jungs und zwei Mädchen, die alle früher auch in unserer Klasse waren. Die anderen sind dann vermutlich in den Parallelklassen oder auf anderen Schulen.
„Das ist ja wunderbar! Stellt euch mal bitte vor! Oder wartet... wir stellen uns alle vor. Jeder sagt seinen Namen, sein Alter und noch etwas über sich. Jamie, fängst du an?"
Da Frau Gärter die Namen der anderen Schüler und Schülerinnen kennt, hat sie die Klasse anscheinend schon einmal unterrichtet. Ich drehe mich um, der schwarzhaarige Junge in der letzten Reihe sieht über die Entscheidung als erster dranzukommen oder generell aufgerufen zu werden nicht besonders glücklich aus.
„Ich heiße Jamie, -"
„Steh bitte auf, damit wir dich alle sehen können!"
Ich finde dass Frau Gärter etwas zu überschwänglich ist. Jamie findet das auch, steht aber trotzdem langsam auf.
„Ich heiße Jamie, bin 16 Jahre alt und gehe auf diese Schule."
Seine Freunde und einige Mädchen grinsen und kichern.
„Sehr schön, los, weiter, weiter!"

Die Namen kann ich mir niemals merken und es gibt auch nichts besonderes, außer dass alle Jungs jetzt sagen dass sie „auf diese Schule gehen". Jetzt sind die beiden Mädchen die zum Gang hin neben Maria und mir sitzen. Sie heißen Diana und Kathi, dann ist Maria dran. Sie steht auf. Oh Mist. Danach bin ich dran. Was... sag ich bloß? Beziehungsweise wie sag ich was bloß? Okay, ich muss einfach ich selbst bleiben. Einfach ruhig und ich selbst sein.
„Ich heiße Maria, bin 16 Jahre alt und neu hier an der Schule."
Na, das war auch nicht gerade originell. Maria setzt sich hin. Ich stehe auf und drehe mich zur Klasse, so dass alle mich sehen können.
Ich heiße Lucie, bin auch 16 Jahre alt und ich bin stumm, das heißt ich kann nicht reden.
Maria steht auf.
„Sie sagt: Ich heiße Lucie, bin auch 16 Jahre alt und ich bin stumm, das heißt ich kann nicht reden."
Wir setzen uns hin. Frau Gärter strahlt und ruft den Nächsten auf, aber alle schauen jetzt - mehr oder weniger unauffällig zu mir und tuscheln leise. Aber das bin ich gewohnt.

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