DREIUNDZWANZIG

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Mir tut alles weh. Am meisten eigentlich mein Kopf. Ich will die Augen gar nicht öffnen, dann kommt nämlich das Licht herein und mein Kopf schmerzt noch mehr. Aber ich muss wissen wo ich bin. Ich schlage die Augen auf. Das erste was ich sehe, ist die weiße Zimmerdecke. Ich liege auf dem Rücken in einem Bett mit hellblauem Überzug. Die Möbel im kleinen Zimmer (Schreibtisch, Stuhl, Schrank, Bett) sind hellbraun. Wo bin ich? Was ist passiert? Ich bin... ohnmächtig geworden? Ja. Und... ich kann sprechen?
„Hallo."
Nur ein Test. Ich kann es immer noch. Aber warum? Oder nein, die bessere Frage ist eher: Warum konnte ich es früher nicht? Ich höre Schritte auf der Treppe. Wer ist das? Nico? Aber warum -
Die Tür geht langsam auf. Und im Türrahmen steht ein kleiner Junge mit rot-weiß geringeltem Sweatshirt und verstrubbelten, dunkelblonden Haaren. Wir starren uns an.
„Janosch." flüstere ich.
„L- Lucie?" flüstert er.
Dann ist er mitten im Zimmer vor dem Bett und plötzlich liegen wir zusammen, fest umschlungen unter der himmelblauen Bettdecke.
„Janosch, wo sind wir hier?"
„Bei Mareike und Peer natürlich. Ist doch klar."
„Und... und wo ist Nico? Und Nelio?"
„Nelio liegt unten auf dem Sofa und Nico am Küchentisch."
„Nein, Janosch! Nico ist nicht mein bester Freund gewesen, das war Nelio!"
„Weiß ich doch. Ich weiß alles."
Der Siebenjährige legt seinen Mund zu meinem Ohr und senkt seine Stimme.
„Wusstest du eigentlich, dass ich einen roten Fahrradhelm habe? Und dass ich mal Spion werden will? Und dass Vögel im Gebüsch ganz anders rascheln als ich?"

Mein kleiner Bruder und ich gehen zusammen Hand in Hand nach unten. Ich habe noch die dreckigen Wald-Klamotten an, auch meine Uhr. Zwei Stunden sind vergangen, seit ich in das dunkle Loch herabgestiegen bin. Ich höre Stimmen aus dem Wohnzimmer. Vertraute Stimmen. Janosch hat mir nichts erzählt, außer was er alles weiß. Aber nichts von dem, was passiert ist als ich bewusstlos war. Wobei ich am Ende im Bett dann wohl geschlafen habe.
Ich öffne die Tür.
„Sie schläft immer noch, oder Janosch? Hab ich dir doch gesagt."
„Nein tut sie nicht." sage ich.
Alle Köpfe im Raum schießen ruckartig in meine Richtung.
„Lucie! Oh Gott, du bist wach! Weißt du eigentlich was wir uns für Sorgen um dich gemach haben!"
Mareike stürzt auf mich zu. Dann Maria, Kathi und Diana. Ich fühle mich überrumpelt. Was machen die denn alle hier? Auf dem Sofa liegt Nelio und grinst mich an. Am Küchentisch sitzt Nico und starrt grimmig in das Glas Wasser vor ihm, Peer sitzt neben ihm und lächelt mir ebenfalls zu.
„Weißt du eigentlich, was du verpasst hast, Lucie?"
„Alles vermutlich."
Maria schüttelt nur den Kopf. Keiner hier sieht wirklich geschockt aus über meine neue Weise zu sprechen. Nelio hat es ihnen anscheinend schon erzählt.
„Ich denke, es wäre am besten, wenn jeder seinen Teil in der Geschichte erzählt. Nelio hat schon berichtet, was ihr in diesem Geheimgang gemacht habt. Aber sonst noch nichts." sagt Peer.
„Ich fange an!" ruft Janosch, der beschlossen hat, meine Hand nie mehr loszulassen.
„Na gut. Und dann ich." murmelt Maria und nickt dem kleinen Jungen auffordernd zu.
„Also. Ich hab Lucie schon einige Zeit lang ausspioniert. Weil ich ja mal Spion oder Detektiv werden will. Dadurch hab ich eben von all dem hier erfahren. Als Lucie sich dann allein mit Nico treffen wollte..."
Janosch straft den in sein Wasserglas starrenden Jungen mit einem bösen Blick.
„Da hab ich so getan als würde ich hierher gehen. Dann bin ich aber vom Dorf aus in den Wald gefahren. Anscheinend seid ihr da aber gerade vom Weg weggegangen, als ich vorbeigefahren bin. Am Baumhaus habe ich Nelio getroffen."
„Ich kam gerade an und dann stand da ein Fahrrad. Gerade habe ich mich gewundert weil die Leiter noch am Boden war, da kam er angefahren. Und wisst ihr was er gesagt hat, als er mich sah? „Hallo Nico, wo ist denn Lucie? Oder Mia wie du sie vielleicht auch nennst." Da musste ich ihn natürlich fragen was er meint und wir sind dann darauf gekommen, dass ihr beide vermutlich zu dem Eingang des alten Tunnels gelaufen seid. Wir haben dann eine kleine Abkürzung genommen und waren kurz nach euch da. Und als Nico dann reingehen wollte hab ich mich auf ihn gestürzt."
„Ich habe sogar noch „Nein!" gerufen, aber du warst schon weg! Ich bin dann zum Pfad gerannt, weil ich Hilfe holen wollte. Und wer kam mir da aus Richtung Baumhaus entgegen? Maria, Kathi und Diana! Dann sind wir zum Tunneleingang gerannt und als ihr rauskamt haben wir Nico mit dem Konfetti-Knaller so erschreckt, dass er Nelio losgelassen hat und wir uns alle auf ihn stürzen konnten!" erzählt Janosch stolz.
Maria schüttelt den Kopf.
„Ganz so war es auch nicht, du standest nur am Rand und bist gleich zu Lucie gelaufen. Aber ja. Genau, ich bin eben zu Kathi geradelt weil ich mit ihr über Nico reden wollte. Diana war bei ihr."
Jetzt mischt Kathi sich ein.
„Lucie, das tut mir so leid, alles! Ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich Nico unsere Informationen gegeben habe. Tut mir echt leid. Als Maria uns erzählt hat, dass ihr im Wald unterwegs seid, sind wir sofort zum Baumhaus gefahren. Als dort keiner war, nur drei Fahrräder von dem eins - das hat Maria vermutet - von Janosch war, haben wir beschlossen den anderen Trampelpfad zu nehmen, weil wir dachten, dass er vielleicht hier, also bei Mareike und Peer rauskommt. Aber dann haben wir Janosch getroffen."
„Warum... hattet ihr so ein Konfetti-Zeug dabei?" frage ich, meine Stimme klingt immer noch zittrig.
„Also... das war ich.", murmelt Diana „Es ist doch dein Geburtstag und Kathi und ich wollten dich bei dir zuhause überraschen. Dann kam Maria, gerade als wir loswollten. Ich hab es einfach nicht mehr aus dem Rucksack gepackt."

Nachdem alle ihre Versionen zum besten gegeben haben, bin ich um einiges schlauer. Weil ich bewusstlos war, mussten Kathi, Diana und Janosch mich irgendwie zu Kohls tragen während Maria und Nelio Nico mit seinem eigenen Taschenmesser in Schach gehalten haben.
„Nico..." frage ich, „Kannst du jetzt bitte sagen, wofür du alles Geld das mir gehört brauchst?"
Nico dreht den Kopf leicht zu mir.
„Das Geld gehört nicht dir. Es gehört mir! Deine Eltern sind tot. Ich bin dein Cousin väterlicherseits. Es gehört mir."
Ich starre ihn an. Cousin väterlicherseits? Ich habe Verwandtschaft? Stimmt, ich habe ja in dem Brief damals von einer Tante geschrieben. Der Schwester von meinem Vater.
„Und ich brauche das Geld für meine kleine Schwester. Sie ist vier. Und was glaubst du warum ich Gebärdensprache kann. Sie ist taub, hört nichts. Aber man kann ihr noch helfen, mit einem speziellen Hörgerät. Du willst nicht wissen, wie viel das kostet."
Nico dreht sich wieder weg und starrt weiter in das Wasserglas.
„Meine Cousine ist... taub?"
„Ja. Luisa hört schon seit ihrer Geburt fast nichts. Dieses Hörgerät würde ihr ein normales Leben ermöglichen."
Einige Zeit lang sind alle im Wohnzimmer still. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Dann durchbricht Nelio das Schweigen.
„Was ich schon die ganze Zeit wissen wollte, Herr und Frau Kohl... warum hängt denn in der Diele eigentlich ein Foto von Mias Eltern?"

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