VIERUNDZWANZIG

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Meine Eltern hießen Anne und Rudolf. Sie kamen vor etwas mehr als drei Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Sie wollten in die Nähe meiner Großeltern mütterlicherseits ziehen, oder eher dort in der Nähe Urlaub machen. Sie konnten diese nicht erreichen, erfuhren aber von der Stadt, dass sie noch dort lebten. Von der Schule hatten Mama und Papa mich nur abgemeldet, da sie planten, noch etwas länger bei den Eltern meiner Mutter zu bleiben. Solange hätte ich in eine Schule dort in der Kleinstadt gehen können. Ich hätte mir selbst eine Schule aussuchen sollen, auf die ich für einen oder zwei Monate gehen würde, deshalb war ich auch noch nirgendwo offiziell angemeldet. Das Haus wurde verkauft, weil meine Eltern nicht wussten wie lange wir bei Oma und Opa bleiben würden. Und bei der Rückkehr hätten wir im Nachbardorf in ein größeres Haus ziehen können. Vielleicht sogar mit meinen Großeltern. Der ganze Kram, den wir behalten wollten, kam in die geheime Kammer, die eigentlich das Arbeitszimmer meines Vaters war. Ich bekam den Schlüssel zum Aufbewahren. Hätten die neuen Hausbesitzer die Türe mit Gewalt geöffnet und das Zimmer gefunden, wäre da ein Brief gelegen. Mit der Telefonnummer und der Bitte, nichts wegzuwerfen. Weil es nur als notdürftiger Lagerraum genutzt werde und wir es bei unserer Rückkehr vom Wald aus geholt hätten. Das alles haben sie mir vermutlich bei meiner Nachfrage wegen der Abmeldung an der Schule erzählt und ich war damit einverstanden.
Es ist alles wie ein Puzzle, das sich zusammensetzt. Nelio war damals mit Nico gut befreundet, da sie in der Nähe voneinander wohnten. Nelio hatte Nico das Baumhaus und den Eingang zum Kellerzimmer gezeigt, nachdem ich verschwunden war. Er hoffte auf dessen Hilfe. Aber Nico - der ja mein Cousin ist - wollte daraufhin das Geld für seine kleine Schwester haben, mit der Begründung, ich könne mich ja an nichts mehr erinnern. Aber er bekam die äußere Türe nicht auf, und da im Haus bereits jemand eingezogen war... Nelio und Nico zerstritten sich, als Nico mir heimlich den Schlüssel klauen wollte. Er hätte es auch ohne Nelio gemacht, aber zu der Zeit, als er im Krankenhaus nachfragte, war ich schon bei meiner neuen Familie. Und Nelio selbst, der seine Kindheitsfreundin verloren hatte und dessen anderer guter Freund ihn hintergehen wollte, zog sich in sich selbst zurück.

Ich sollte auch in diesem Flugzeug sitzen, aber wir waren spät dran, die Sicherheitskontrolle wollte mich nicht durchlassen, wegen des Anhängers um meinen Hals. Da meine Eltern schon vorher durch die Kontrolle gegangen waren und dachten ich säße schon im Flugzeug, konnte ich nur hilflos mit ansehen wie die Maschine abhob. Ich glaubte vermutlich, dass Mama und Papa doch nicht eingestiegen wären, weil ich nicht dort war. Deshalb erreichte mich die Nachricht des Flugzeugabsturzes, als ich auf einer Bank in der Wartehalle saß. Irgendwie bin ich dann wohl zu unserem alten Haus gekommen, doch ich wusste da ja schon, dass es verkauft werden sollte.
Dann fehlen sieben Wochen, bis ich in einem Krankenhaus aufgewacht bin. Bin ich zu Nelios Haus gegangen und dann wieder in den Wald, weil er im Urlaub war? Sicher habe ich mich im Wald am Kopf so verletzt, sodass ich mich an nichts mehr erinnern kann. Bin eine Klippe heruntergefallen, irgend sowas. Erinnern, das kann ich jetzt immer noch nicht. Das mit dem Sprechen war vermutlich der Schock über den Tod meiner Eltern, der immer noch so tief in mir drin saß, obwohl ich das nach meinem Gedächtnisschwund natürlich nicht mehr wusste. Dann noch, dass ich ja mein Gedächtnis verloren hatte... auch ein Schock. Und wenn ein Mensch viele schreckliche Dinge erlebt und diese nicht verarbeiten kann, schließt er sich manchmal in sich selbst zurück. So habe ich es getan, indem ich einfach nichts mehr gesagt habe. Und dann habe ich vergessen dass ich es überhaupt konnte.

Ich wohne weiterhin bei Janosch und dessen Eltern, die ich auch Mama und Papa nenne. Aber jedes Wochenende besuche ich meine Großeltern, Mareike und Peer. Oft treffe ich mich nach der Schule auch mit Nelio, oder Kathi und Diana oder Maria. Wir haben einen Spendenaufruf im Internet für Luisa gestartet. Bald kann meine Cousine das neue Spezial-Hörgerät bekommen, richtig hören und ein normales Leben führen. Das Verhältnis zwischen Nico und mir ist immer noch frostig. Ich weiß nicht, ob wir uns je wieder gut verstehen werden, aber wir begegnen uns immer freundlich. Ich war auch ein paar mal bei meiner Tante und meinem Onkel zu Besuch, den Eltern von Nico und Luisa. Sie wohnen auch ganz in der Nähe, weshalb Nico auch auf die selbe Schule geht wie ich jetzt. Sie sind alle sehr nett. Im Mai nächsten Jahres werde ich siebzehn.

Ich kann sprechen, habe Freundinnen und Freunde, Onkel und Tante, Cousin und Cousine, Opa und Oma. Und einen kleinen Bruder und Eltern. Außerdem einen Hund namens Martin, ein Baumhaus und viele Erinnerungen an Zeiten, an die ich mich nicht erinnern kann. Und um meinen Hals hängt ein Schlüssel zu einem Raum unter dem Haus meiner Großeltern, wobei ich mit diesem nur vom Wald aus hineinkann. In meiner Hosentasche habe ich den zweiten Schlüssel gefunden.

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