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Pat

Keuchend renne ich über den nassen Asphalt, ein Schritt nach dem anderen, ein Kilometzer nach dem anderen. Musik wummert durch die Kopfhörer, lenkt mich von meinem keuchenden Atem und dem Seitenstechen ab. Eigentlich sollte ich am Schreibtisch sitzen und arbeiten, aber mein Kopf ist leer, seit Tagen starre ich aus dem Fenster, zähle die Regentropfen, die an der Fensterscheibe entlanggleiten, schweife mit meinen Gedanken ab. Ich schinde Zeit, zögere unvermeidbare Dinge hinaus, das weiß ich, aber ich kann grade nicht anders. Ich beginne mich hier immer mehr und mehr wohl zu fühlen, ich genieße das raue Wetter, die Abgeschiedenheit, die Einsamkeit. Ich muss mich wirklich anstrengen, um etwas zu finden, dass ich vermisse, meine Frau, aber die sollte ich wohl auch vermissen, aber sonst? Ich vermisse noch nicht einmal das Handynetz, das an manchen Tagen einfach nicht da ist. Wenn man mir das vor vier Wochen jemand prophezeit hätte, ich hätte denjenigen ausgelacht. Ich war quasi mit meinem Handy verwachsen, wir haben eine wunderbare Symbiose gebildet, immer online, immer am Start, Tag und Nacht. Jetzt nehme ich es nur zur Hand um Joelle anzurufen oder, so wie jetzt, um Musik zu hören.

Meine Beine tragen mich wie von selbst raus aus dem Ort auf den kleinen Wanderweg, heute ist niemand hier unterwegs, auch im Dorf selbst habe ich lediglich eine junge Frau gesehen, mit ihrem riesigen Rucksack auf den Schultern scheint sie eine Touristin zu sein, noch so eine arme Irre die um diese Jahreszeit hier ist und nicht auf dem Malediven. Bei dem Gedanken an die Malediven zieht sich alles in meinem Magen zusammen und ich versuche den Gedankenfetzen schnell zur Seite zu schieben, gestern Abend gab es deswegen einen Streit zwischen Joelle und mir. Sie hat mir von der Tristesse erzählt, die grade in München herrscht, Dauerregen, kühle Temperaturen, missmutige Menschen wohin man sieht. Sie hat Reiseprospekte gewälzt, sich Angebote eingeholt, alles ist geplant, sie wartet nur noch auf mich. Gestern Abend habe ich mich dann endlich dazu durchgerungen ihr zu sagen, dass ich noch länger bleibe, dass ich mehr Zeit brauche, alles länger dauert als geplant. Sie war enttäuscht und das hat sie mich spüren lassen. Ich liebe sie, ich liebe sie wirklich, aber in solchen Momenten...

Ich schüttele den Kopf, ziehe das Tempo an und beschließe heute die große Runde zu laufen. Ich atme die frische, würzige Seeluft tief ein, merke, wie sie meine Lungen flutet, den Kopf frei macht, einfach an nichts denken, nur dem Rhythmus der Musik und meiner Schritte folgen. Ich bin fast etwas enttäuscht als sich das kleine Bed and Breakfast in mein Sichtfeld schiebt, habe gar nicht gemerkt, wie die letzte Stunde quasi an mir vorbeigerauscht ist. Mit klammen Fingern stecke ich den Schlüssel in die Haustür und trete ein, der Duft nach frischgebackenem Brot und Kuchen schlägt mir entgegen und erinnert mich daran, dass ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen habe.

„Pat? Bist du das? Magst du mal um die Ecke schauen?", kommt es da von Jenny aus dem Aufenthaltsraum.

„Ja, ich war Laufen, was für ein Wetter, da schickt man eigentlich keinen Hund vor die Tür.", rufe ich lachend und schlüpfe aus meinen nassen Laufschuhen und betrete den Raum, der durch den Kamin angenehm warm ist. Vielleicht sollte ich mich nach der heißen Dusche einfach auf das Sofa kuscheln und etwas lesen, der Drang heute Abend noch nach Deutschland zu telefonieren ist recht gering.

„Hey Pat, darf ich dir Malia vorstellen, sie ist seit heute auch Gast hier. Sie kommt aus Deutschland und wird vier Wochen bleiben. Jetzt hast du endlich Gesellschaft."

Ich mustere die junge Frau, die mir nur knapp bis zu den Schultern geht. Mit ihren kupferfarbenen Locken und den grünen Augen sieht sie aus wie aus einer Riverdance Show entsprungen. Eigentlich habe ich es genossen das Haus in den letzten 14 Tagen für mich zu haben. Anfangs waren mit den Sneijders, einem älteren Ehepaar aus den Niederlanden, einem Pärchen aus Dänemark und einem jungen Mann aus Polen alle Zimmer besetzt, seit zwei Wochen bin ich der einzige Gast. Ich habe sogar kurz überlegt die anderen Zimmer auch zu mieten, aber das hätte Fragen aufgeworfen. Jenny hat mich sowieso schon merkwürdig gemustert, als ich mein Zimmer um weitere vier Wochen verlängert habe. „Vermisst dich dein Chef gar nicht?", hatte sie lachend gefragt. Offiziell bin ich Pat aus den USA, mache was mit Fremdsprachen und nehme mir grade eine Auszeit.

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