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Malia

Ich starre auf das Meer, das sich mit gleichmäßigem Rauschen an den Klippen bricht. Ich soll ihm erzählen was mich bedrückt? Etwas erzählen, das außer meiner Familie und Nina niemand weiß? Gut und meinen Therapeuten, von denen es in den letzten 30 Jahren viel zu viele gab. Andererseits vertraue ich ihm, mehr als vielen andere Menschen, die ich bislang getroffen habe. Ich bin mir sicher, dass das, was ich zu erzählen habe, bei ihm gut aufgehoben wäre und vielleicht hat er Recht, vielleicht geht es mir besser, wenn ich es laut ausgesprochen habe, auch wenn es an der Gesamtsituation nichts ändern wird. „Ich hatte einen Bruder, Levi. Mein Zwillingsbruder. Er ist... Er ist nicht mehr da.", presse ich hervor.

„Ist er gestorben?", fragt Paddy vorsichtig und streichelt mir sanft über den Handrücken.

„Nein... Ja... Also... Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es für ihn.", stammele ich und merke, wie sich Paddy neben mir anspannt. Ja, für Außenstehende mag das komisch klingen, aber bei der Alternative die es gäbe wäre der Tod sicherlich der angenehmere Weg. Ich seufze und entziehe meine Hand seiner, ziehe die Beine an und umschlinge sie mit meinen Armen. „Wir waren damals sechs Jahre alt, der letzte Sommer bevor wir in die Schule kommen sollten. Wir waren so aufgeregt, unsere Schulranzen standen schon in unserem Kinderzimmer. Ein blauer Scout für Levi und ein grüner für mich. Ich war so stolz, dass ich einen grünen Schulranzen hatte, keinen pinken wie alle anderen Mädchen aus unserem Kindergarten. Mama hat gesagt, dass das Grün sehr gut zu meinen Haaren passen würde und zu meinen Augen. Unsere Eltern wollten in dem Sommer noch einmal Urlaub mit uns machen, zum ersten Mal wegfahren, an die Adria. Drei Wochen auf einem Campingplatz, von mir aus hätten wir auch drei Wochen in einer abgelegenen Waldhütte verbringen können, alleine der Gedanke unsere Eltern für drei Wochen nur für uns zu haben war himmlisch. Und dann... Es gab einen riesigen Streit, meine Großmutter hat einen Großkunden an Land gezogen, das bedeutete Arbeit, viel Arbeit. Arbeit die meine Großeltern alleine unmöglich geschafft hätten. Meine Mutter war so sauer, sie hat meine Oma so angeschrien, natürlich nicht vor uns Kindern, aber wir haben sie trotzdem gehört. Und dann hat sie sich mit Papa gestritten, weil er es nicht schafft sich gegen seine Eltern durchzusetzen, dass er endlich einmal auf den Tisch hauen soll. Jeden Abend haben sie gestritten, gebracht hat es nichts. Unser Urlaub wurde verschoben, wir fahren im nächsten Jahr hat Papa uns abends im Bett versprochen und in diesem Jahr macht ihr einfach Abenteuerferien mit Hanne." Ich seufze und schließe die Augen, kann die Hand meines Vaters spüren, der mir die wirren Locken aus dem Gesicht streicht, der mir sagt, dass ich deswegen nicht weinen soll, dass es schlimmeres gäbe als einen verschobenen Urlaub und dass wir durch den Kunden viel Geld verdienen und im kommenden Jahr dann sogar wegfliegen könnten. Einen viel besseren und tolleren Urlaub machen, in einem Luxushotel. Dass es mir gar nicht darum ging, sondern einfach darum Zeit mit ihnen zu verbringen, das hat er nicht verstanden. Oder er wollte es nicht verstehen.

„Was ist passiert?", fragt Paddy in die entstandene Stille.

„Hanne hat sich alle Mühe gegeben uns tolle Ferien zu ermöglichen. Jeden Tag ein neues Abenteuer mit unseren besten Freunden. Wir haben im Garten gezeltet, wir waren im Zoo und haben kleine Boote aus Rinde gebaut, die wir in der Isar ausgesetzt haben. An einem Tag sind wir schon morgens ganz früh mit dem Zug losgefahren und haben eine Bergwanderung gemacht. Wir waren das erste Mal so weit oben und es war atemberaubend. Wie weit man gucken kann und welche Ruhe dort oben herrscht. Hanne kannte viele versteckte Wege, so dass wir den ganzen Tag keine Menschenseele getroffen haben. Abends sind wir auf einer Berghütte eingekehrt, es gab Käse und Schinken und Brot, ich habe noch so etwas leckeres gegessen. Und dann durften wir Kinder im Heu schlafen, über dem Kuhstall. Kannst du dir vorstellen was das für ein Abenteuer war? Nina und Johannes waren auch mit dabei, wir haben uns so groß gefühlt, so erwachsen. In solchen Momenten konnte ich sogar vergessen, wie traurig ich wegen des Urlaubs eigentlich war. Am nächsten Tag sind wir zurück gewandert, im Tal gab es einen Wald, so einen richtigen Märchenwald mit Bäumen die mir damals so hoch wie Mammutbäume vorkamen. Man hatte das Gefühl das an jeder Ecke das Knusperhäuschen von Hänsel und Gretel auftauchen würde. Einige Jahre später war ich nochmal da.", ich lache trocken auf bei der Erinnerung. „Es war ein Wald wie jeder andere und doch hat sich dort etwas abgespielt, das man sonst nur aus Krimis kennt. Wir haben Höhlen gebaut und einen Staudamm in einem kleinen Flussbett. Hanne hat uns so viel Freiheit gelassen, wir sollten die Natur entdecken und uns richtig austoben, in der Stadt ist sowas ja doch eher immer schwierig. Wir sind auf Bäume geklettert und haben Hanne so lange bearbeitet bis sie zwei Zimmer in einem Gasthof gebucht hat und wir noch einen Tag geblieben sind. Unsere Eltern waren so froh, dass es uns gut ging, sie hätten uns alles erlaubt. Am nächsten Tag sind wir wieder in den Wald und haben Verstecken gespielt. Johannes war zuerst dran mit zählen und ich war so stolz auf mein Versteck, in einer alten Kuhle die anscheinend irgendein Tier hinterlassen hat. Levi wollte sich bei mir verstecken, weil er alleine Angst hatte, der große Wald, er wollte sich nicht alleine verstecken. Und ich... Ich habe ihn ausgelacht. Ich war die Ältere, ganze dreißig Minuten älter war ich und diesen Umstand habe ich viel zu oft raushängen lassen. Ich habe ihn Baby genannt und ihm gesagt, dass er sich gefälligst ein eigenes Versteck suchen soll. Er hat angefangen zu weinen und ich... Ich war nicht besonders nett zu ihm. Irgendwann ist er gegangen. Das war das letzte Mal, wo ich ihn gesehen habe. Wir haben ihn gesucht, ich weiß nicht wie viele Stunden. Wir haben ihn gerufen immer und immer wieder, aber keine Antwort bekommen. Hanne hat die Polizei gerufen und unsere Eltern angerufen. Stundenlang haben Suchtrupps den Wald durchforstet, sogar mit Hunden, aber sie haben ihn nicht gefunden, als wenn er vom Erdboden verschluckt worden wäre. Die Polizei geht davon aus, dass er entführt worden und über die Grenze nach Tschechien verschleppt worden ist. Was man dort mit einem kleinen Jungen anstellt will man sich lieber nicht vorstellen. Ein paar Jahre haben wir ganz intensiv nach ihm gesucht, mit Flugblättern, wir haben eine Belohnung versprochen, aber... Er ist nie wieder aufgetaucht. Mittlerweile wäre er erwachsen, wenn er noch leben würde..." Ich kann es nicht verhindern, dass mir erneut die Tränen in die Augen schießen. „Wir haben uns alle so viele Vorwürfe gemacht. Meine Mutter, weil sie nicht einfach mit uns in den Urlaub gefahren ist, Hanne, weil sie nicht besser aufgepasst hat. Und ich, weil ich Levi weggeschickt habe, wenn ich ihn hätte bleiben lassen, dann... Dann wäre er noch hier. Warum habe ich ihn weggeschickt? Nur weil ich gewinnen wollte? Danach... Meine Mutter hatte solche Angst um mich, ich durfte nirgendwo mehr hin. Morgens hat sie mich zur Schule gefahren und mittags dort abgeholt. Ich durfte nirgendwohin zum Spielen, zu keinem Kindergeburtstag, ich durfte nicht auf den Spielplatz oder ins Freibad, zu groß war die Angst, dass mir etwas passiert. Für die anderen Kinder war ich deswegen bald ziemlich langweilig, wir hatten zwar einen großen Garten, aber auf die Dauer war ich dann das komische. Ängstliche Mädchen das sich nichts getraut hat. Nur Nina ist geblieben, die ganzen Jahre ist sie an meiner Seite geblieben. Wenn alle anderen auf Klassenfahrt gefahren sind hat sie mir jeden Tag geschrieben, sie hat so viele Einladungen ausgeschlagen, weil ich nicht mit konnte, ihr ist nie langweilig geworden. Im ersten Jahr haben wir täglich darauf gehofft, dass die Polizei sich meldet, bei jedem Telefonklingeln ist meine Mutter zusammengezuckt, um dann doch enttäuscht zu werden. Einmal... Einmal war es wirklich die Polizei, meine Eltern sollten nach Schwabing kommen, es wurde eine Kinderleiche entdeckt, auf die die Beschreibung von Levi passen würde. Er war es nicht, damals war ich erleichtert, heute denke ich, dass die Gewissheit, dass er tot ist es uns vielleicht einfacher machen würde. Wir könnten mit der Sache abschließen. So ist Levi seit über 30 Jahren unser stummer Begleiter. Ich... Mir ging es nicht gut, als Teenager hat mich das schlechte Gewissen aufgefressen, ich habe mir die Schuld an seinem Verschwinden gegeben, ich bin ziemlich krank geworden. Zwangsneurose ausgelöst durch ein Trauma lautete die Diagnose. Ich war lange in Therapie, stationär und ambulant, ich bin von Therapeut zu Therapeut gereicht worden, aber keiner hat mir meine Schuldgefühle nehmen können. Ich habe irgendwann gelernt damit zu leben, aber einige Dinge sind aus der Zeit geblieben, deswegen bin ich manchmal etwas... Weltfremd. Es gab Zeiten in denen ich die Tage nach Farben eingeteilt habe, Montag war rot, ich konnte nur rote Sachen anziehen, rote Dinge essen, Dienstag war grün und so weiter. Ich musste alles zählen, Buchstaben von Wörtern, Wörter in Sätzen, Sätze in einem Gespräch, Schritte die ich getan habe, Autos die an mir vorbeigefahren sind. Ich habe mich mit Zahlen umgeben und bin meinem Umfeld damit tierisch auf die Nerven gegangen. Zusätzlich hatte ich einer Aversion gegen ungerade Zahlen, ich habe also oft noch ein völlig sinnloses Wort an einen Satz drangehängt oder bin einen Schritt vor meinem Ziel stehen geblieben nur damit ich eine Grade Zahl zählen konnte. Du siehst, die Malia die du hier kennengelernt hast, ist schon eine ziemlich normale Version." Ich versuche mich an einem Grinsen das aber eher einer verzerrten Grimasse ähnelt.

Paddy sagt nichts, stumm greift er nach meiner Hand und drückt sie.

„Bitte sag nicht, dass ich keine Schuld am Verschwinden von Levi habe.", bitte ich ihn leise. „Alle hoffen immer es mir mit diesem Satz leichter zu machen, aber... Es bringt nichts."

„Du bist so eine starke Frau Malia!", murmelt er irgendwann leise.

Ich schnaube höhnisch. „Ich? Stark? Ich bin Ende 30, ich habe mein Leben nur im Griff wenn ich mich in meiner vertrauten Umgebung befinde, alles andere lässt meine Strukturen zerbrechen und mich am Leben verzweifeln."

„Aber du bist hier! Und es geht dir gut. Klar, du bist ein kleiner, komischer Kobold, aber du hast hier alles im Griff. Für diese Vorgeschichte schlägst du dich tapfer."

„Danke.", murmele ich und schlucke, tapfer hat mich tatsächlich noch niemand genannt. Er zieht mich in seine Arme und drückt mich vorsichtig an sich.

„Schau, noch eine Sternschnuppe! Wir können uns was wünschen.", sagt er. Ich schließe die Augen und wünsche mir das, was ich mir immer wünsche, endlich Frieden zu finden. Gewissheit zu bekommen und einen Strich unter das Kapitel ziehen zu können.

Temptation IslandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt