Kapitel 10 - Rituale

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Am Abend ließ sich Magnus erschöpft auf seine Matratze fallen.

Der Tag war anstrengend gewesen, wenn auch nicht weiter schlimm. Seine Stiefmutter hatte ihn, wie fast immer, ignoriert und auch die Kommentare von Sebastian und Camille hielten sich glücklicherweise in Grenzen. Noch mehr Schikanen von ihnen hätte er jetzt echt nicht gebrauchen können.

Verträumt sah er auf seine neuen Handschuhe und wackelte leicht mit den Fingern, um zu überprüfen, ob sie auch wirklich echt sind. Er konnte es noch immer nicht recht glauben, denn es war sehr lange her, dass ihm jemand so ein wertvolles Geschenk gemacht hatte.

Aber eigentlich berührte ihn dabei viel mehr die Tatsache, dass jemand an ihn gedacht und sich um ihn gekümmert hatte. Neben Cat, Chairman Meow und den Mäusen schien Dorothea nämlich die einzige, die das noch tat.

Es versetzte ihm einen Stich, dass diejenigen, die eigentlich seine Familie sein sollten, sich scheinbar einen Dreck um ihn und sein Wohlergehen scherten. Dabei wusste er noch nicht einmal, wieso das so war.

Aber ehe er in derarig trübsinnigen Gedanken versinken konnte, rappelte er sich auf und kniete sich auf den Boden. Vorsichtig hob er die losen Holzdielen an und holte seine kleine Schatzkiste heraus.

In dieser Kiste bewahrte er Dinge auf, die ihn an die schönen Ereignisse in seinem Leben erinnerten. Es war eine Art Erinnerungsbox und wahrscheinlich sein wertvollster Besitz, neben den Handschuhen.

Er klappte sie auf und blickte erst einem gerahmten Bild entgegen. Auf dem Bild waren er und seine Eltern zu sehen.

Sein Vater hatte einen Arm um die zierlichen Schhultern seiner Mutter geschlungen und er selbst thronte mit dem wahrscheinlich breitesten Grinsen seines Lebens auf der starken Schulter seines Vaters. Magnus musste ungefähr sieben gewesen sein, als man das Foto gemacht hatte, denn er hatte bereits zwei Zahnlücken.

Früher hatte er sich deshalb immer für einen Piraten gehalten, der den Kuchenteig von seiner Mutter entführen und ihn in der Scheune verspeisen konnte. Zu diesen Entführungen hatte er auch immer eine schwarze Augenklappe aufgesetzt, um bedrohlicher zu wirken.

An den Ecken konnte man bereits sehen, dass das Bild ziemlich alt war, weshalb Magnus es auch mit äußerster Vorsicht beiseite schob.

Darunter lag ein Buch, das Lieblingsbuch seiner Mutter. Es war ein Märchenbuch, aus dem sie ihm abends immer vorgelesen hatte. Irgendwann hatte er die Geschichten sogar auswendig gekonmt und mit den Lippen immer still die Worte mitgeformt, wenn seine Mutter ihm erneut daraus vorlas.

In den Seiten steckten weitere Bilder von ihm, seiner Familie, seinen früheren Freunden und auch einigen ehemaligen Hausangestellten, die für ihn auch irgendwie zur Familie gehört hatten. Auch einige Blumen, die seine Mutter einst getrocknet und gepresst hatte, steckten zwischen den Seiten.

Am Boden der Kiste befanden sich die unzählige Briefe, die sein Vater ihm während seiner vielen Reisen zugesendet hatte. Er hatte alle aufgehoben, um sie immer wieder zu lesen. Das war auch der Grund gewesen, diese Kunst überhaupt erst zu erlernen, denn er wollte einfach wissen, was sein Vater erlebt hatte.

Neben den Briefen waren noch einige Geschenke in der Kiste, die ihm sein Vater gegeben hatte, wenn er wieder nach Hause gekommen war.

Aber sein Augenmerk lag noch immer auf dem Märchenbuch.
Er setzte sich auf die Matratze und fischte eines der Bilder heraus.

Es zeigte eine junge Frau in einem einfachen Baumwollkleid. Ihre tiefschwarzen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Zopf hochgesteckt und ihre hellbraune Haut schimmerte bronze im Sonnenlicht. Sie lächelte und um ihre Mandelaugen sah man die einzigen Fältchen, die jeder gerne hätte: Lachfältchen.

Ehrfürchtig strich er über das Gesicht der Frau, denn Magnus war immer wieder überrascht, wie schön seine Mutter in ihrer Jugend ausgesehen hatte.

Dabei erkannte er aber auch die Ähnlichkeit, die sie miteinander verband. Dot hatte ihm nach einem Blick auf das Bild einmal gesagt, dass er seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Er selbst bezweifelte das aber, denn sie schien so perfekt, dass er ihr nicht mal ansatzweise das Wasser reichen könnte.

Dann erinnerte er sich wieder an den Grund, weshalb er seine Erinnerungsbox überhaupt geöffnet hatte.

Er schloss die Augen und murmelte leise~Ich vermisse dich, Mutter. Jeden Tag, aber ich hoffe, dass es dir gut geht. Da, wo du jetzt bist. Ich hoffe, dass du gerade neben Vater im Bett liegst und ebenfalls an mich denkst. Ich jedenfalls tue es. Den Rat, den du mir vor deinem Fortgehen gegeben hast, trage ich im Herzen und halte mich daran. Mein heutiges Wunder waren die lieben Worte, die Dot an mich gerichtet hat. Ich habe dir ja bereits von ihr erzählt. Sie hat gesagt, dass ich etwas Besonderes bin und dass ihr stolz auf mich wärt. Ich hoffe, das seid ihr, denn nichts sehnlicher wünsche ich mir. Du hast mir auch einmal gesagt, dass ich etwas Besonderes bin, erinnerst du dich? Es war kurz vor deinem Gutenachtkuss. Ich habe das wohl vergessen, denn es ist gerade nicht leicht, wie du ja weißt. Aber ich höre auf deine Worte und bleibe posotiv. Die Freundlichkeit, die ich anderen entgegenbringe, kommt schließlich auch irgendwann zu mir zurück -das hast du mir gesagt- und ich glaube daran. Ich hab dich lieb.~

Nach Vollendung seines Rituals legte er er die Sachen wieder behutsam in die Erinnerungsbox und versteckte diese wieder unter den Holzdielen. Dann legte er sich zurück auf die Matratze und zog die kratzige Decke bis hoch über die Schultern.

Dieses Ritual tat er nahezu jeden Tag und irgendwie half ihm das. Es nahm etwas von der Last auf seinen Schultern, wenn er zu seiner Mutter sprach.

Ob sie ihn hörte war zweifelhaft, aber Magnus fühlte sich einfach besser, wenn er es doch tat. Dadurch konnte er meist sogar schneller einschlafen, denn dann glaubte er oft, dass seine Eltern von dort, wo sie nun waren, auf ihn hinabsahen, Stolz in ihren Augen, und ihn in einen erholsamen Schlaf begleiteten.

Er vermisste sie so unglaublich sehr, dass es beinahe schmerzte, aber er hatte akzeptiert, dass sie gegangen waren und nun aus der Ferne auf ihn aufpassten. Das änderte nichts an seiner Liebe und das würde es auch nie. Niemals.

Das Wunder in jedem Tag (Malec)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt